Hargreaves' (1982a) knappe Hypothese einer altersbedingten Abnahme kindlicher Offenheit gegenüber unkonventionellen Musikstücken (sogenannte Offenohrigkeit, ,,open-earedness") bildet den Hintergrund der vorliegenden Längsschnittstudie mit vier Messzeitpunkten im Verlauf der ersten vier Grundschuljahre. Die beteiligten Schüler beanworteten einen klingenden Fragebogen mit 16 Musikbeispielen auf einer fünfstufigen ikonografischen Ratingskala. Strukturelle und personelle Daten wurden mittels standardisierter Fragebögen erhoben, leitfadengestützte Interviews ergänzen den Datensatz. Auf der Basis von Faktorenanalysen wird Offenohrigkeit über die latenten Faktoren „Klassik", ,,Pop" und „Ethno/Avantgarde" (vgl. Louven, 2011) operationalisiert. Das Ziel der Studie ist die Ableitung von Messmodellen für längsschnittliche Strukturgleichungsanalysen, an denen Prädiktorvariablen (z. B. Geschlecht, Alter, Instrumentalunterricht, Persönlichkeitsdimensionen, Migrationshintergrund, sozio-ökonomischer Status) identifiziert und deren Effekte getestet werden können. Die Ergebnisse legen nahe, dass Kinder bereits im ersten Schuljahr über ein musikspezifisches Kategoriensystem für Präferenzurteile verfügen. Die Entwicklung ihrer Präferenzurteile kann jedoch nicht nur entlang des Kindesalters betrachtet werden, sondern muss zudem nach musikalischen Stilkategorien sowie nach Geschlecht differenziert werden. Während im Verlauf der ersten drei Schuljahre für sämtliche der drei musikalischen Stilkategorien die Urteile stetig weniger positiv ausfallen, löst sich im vierten Schuljahr die faktorielle Gliederung in drei Stilkategorien auf, was als zunehmende Individualisierung der Präferenzurteile gedeutet wird. Neben den Effekten von Alter, musikalischer Stilkategorie und Geschlecht lässt sich für die anderen unabhängigen Variablen keine bedeutende Vorhersagekraft beobachten. Die qualitativen Daten unterstützen die Vermutung, dass musikbezogene Präferenzäußerungen insbesondere von Jungen als Mittel zur Darstellung ihrer psychosozialen (Geschlechts-)Identität genutzt werden.