Jahrbuch-Archiv: Band 15 (2000)

Band 15: Musikpsychologie – Die Musikerpersönlichkeit
Band 15 wurde herausgegeben von Klaus-Ernst Behne, Günter Kleinen und Helga de la Motte-Haber.
Der gedruckte Band ist 2000 im Hogrefe-Verlag erschienen. Die Nutzungsrechte wurden durch die DGM zurückerworben und die Beiträge 2020 als OpenAccess-Publikation zur kostenlosen, freien Verwendung unter der CC-BY 4.0 Lizenz an dieser Stelle neu veröffentlicht.
Alle Beiträge liegen als durchsuchbares PDF vor, sind mit einer DOI versehen und in der PubPsych/PSYNDEX-Datenbank recherchierbar. Beitragstitel und Zusammenfassungen werden konsequent in deutscher und englischer Sprache angegeben.
Mit [*] gekennzeichnete Titel und Zusammenfassungen wurden aus der Ursprungssprache maschinell mit www.deepl.com übersetzt.
Forschungsberichte zum Themenschwerpunkt
Neuere Forschungen zur Musikerpersönlichkeit Personality: the source of new insights into the psychology of the musician
Dieser Artikel ist das Ergebnis umfassender Studien zur Persönlichkeitsstruktur von Musikern. Er versucht, ein umfassendes Verständnis weniger der kognitiven Aspekte der Struktur des Musikerdaseins als der psychologischen Anforderungen, die die Musik an die Ausführenden stellt, zu vermitteln. Er vertritt die Ansicht, daß Musiker nicht nur durch das, was sie wissen und was sie können, zu Musikern werden, sondern auch durch das, was ihre Persönlichkeit ausmacht. Durch die Untersuchung der Rolle von Introversion, Unabhängigkeit, Angst und Sensibilität in der Entwicklung des Musikers und der Art und Weise, in der diese sich vom Zeitpunkt der Pubertät an manifestieren, zeigt der vorliegende Artikel, daß diese Faktoren, wenn man sie eingehender betrachtet, nicht nur die Anforderungen an die musikalische Ausbildung und das Leben als Berufsmusiker reflektieren, sondern auch weitere Einblicke ermöglichen in musikalische Prozesse an sich.
Veränderungen des musikalischen Tempos bei Dirigenten Changes in the musical tempo of conductors [*]
In der Literatur über Musiker stößt man häufig auf die Behauptung, daß betagte Künstler, insbesondere Dirigenten, langsamere musikalische Tempi wählen. Auf eine empirische Absicherung konnte sich die Hypothese bislang nicht stützen. Zwar belegen Untersuchungen über den Alterungsprozeß allgemein, daß körperliche und kognitive Fertigkeiten sich aufgrund der Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit, Schwächung der Muskeln und des Kreislaufsystems im Laufe des Erwachsenen alters verlangsamen. Befragungen über musikalische Vorlieben ergaben zudem, daß betagte Menschen langsamere Tempi bevorzugen. Andererseits belegen Versuche der Expertiseforschung, daß Musiker durch intensives Üben ihre Fähigkeit zum Spielen rascher Tempi bis ins Alter auf hohem Niveau erhalten können. Auch zeigen Arbeiten über die „innere Uhr", daß sich alte Menschen, die ein aktives Leben führen, in ihrer Wahrnehmung kürzerer Zeitintervalle nicht von jungen Menschen unterscheiden. Um der Frage der Tempi betagter Dirigenten auf den Grund zu gehen, wurden die Aufführungsdauern von 46 Aufnahmen der Opern „Don Giovanni" und „Die Zauberflöte" von Wolfgang Amadeus Mozart untersucht, darunter zahlreiche Dubletten einzelner Dirigenten. Zwei Hypothesen wurden geprüft: 1) Die Spielzeiten der Aufnahmen werden mit zunehmen dem Alter der Dirigenten langsamer. 2) Das Aufführungstempo wird generell seit den 1950er Jahren schneller. Die zweite Hypothese beruht auf der Verbreitung der historischen Aufführungspraxis, die nach Meinung vieler Musikwissenschaftler schnellere Tempi verlangt. Überraschenderweise bestätigten sich beide Hypothesen jeweils nur in bezug auf eine Oper. Im Falle des „Don Giovanni" wurden die Aufnahmen in Abhängigkeit vom Dirigentenalter signifikant langsamer, während das Aufnahmejahr keine Rolle spielte. Die Einspielungen der „Zauberflöte" wurden über die Aufnahmejahre hinweg signifikant schneller, das Alter der Dirigenten übte indes keinen Einfluß aus. Als Ursache für das Ergebnis kommen rezeptionsgeschichtliche Unterschiede zwischen den Opern in Frage. Bei Mozarts „Don Giovanni" wirkt vermutlich noch immer die romantische Interpretation des 19. Jahrhunderts nach, während die „Zauberflöte", deren Musik und Libretto in den letzten Jahrzehnten Kritik und Umbewertungen erfahren haben, die Experimentierfreude der Dirigenten geweckt hat - auch die der älteren. Als Ergebnis läßt sich festhalten: Dirigenten zeigen im Alter die Tendenz zur Wahl langsamerer Tempi. Das Phänomen kann jedoch durch willentliche Anstrengung ausgeglichen werden, wenn etwa allgemeine Interpretationsentwicklungen den langsamen Tempi entgegenstehen.
Die Musikerpersönlichkeit aus neurobiologischer Sicht The musical personality from a neurobiological perspective [*]
Musiker unterscheiden sich von Nicht-Musikern in einer Reihe von neurobiologischen Parametern. Diese beeinflussen die charakteristischen Verhaltensmuster, Gedanken und Gefühle, welche es einer Person ermöglichen, in einer Vielzahl von unterschiedlichen Situationen angemessen zu reagieren. Das gilt für das alltägliche Leben ebenso wie für die besonderen Leistungen im Bereich der Musik. Zu diesen Parametern gehören Hormone und andere Botenstoffe, die auf die Informationsverarbeitung im Gehirn wirken; es gehören bestimmte Hirnstrukturen dazu, die vermutlich der Effektivität der Informationsverarbeitung dienen; und es gehören Persönlichkeitsmerkmale im Spannungsfeld Männlichkeit - Weiblichkeit dazu. Hier sind Musiker androgyn, und Androgynie hat eine hormonelle Basis.
Freie Forschungsberichte
Musikalische Wahrnehmungsentwicklung: Wie Kinder Musik hören Development of musical perception: How children listen to music [*]
Betrachtet man bisherige Überblicksarbeiten zur musikalischen Wahrnehmungsentwicklung so wird deutlich, daß der derzeitige Forschungsstand noch durch eine Ansammlung einzelner nach Altersgruppen geordneter Studien charakterisiert ist. Neueren entwicklungspsychologischen Ansätzen folgend (z. B. Amsel & Renninger 1997; Anderson & Wilkening 1991) liefert diese altersorientierte Perspektive jedoch nur wenig Aufschluß über allgemeine Entwicklungsverläufe. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, für die Entwicklung der Musikwahrnehmung Entwicklungsverläufe mit interindividuell unterschiedlichen Start- und Endpunkten zu isolieren. Dabei ergaben sich drei Entwicklungsverläufe (1) vom absoluten zum relationalen Hören, (2) vom globalen zum lokalen Hören und (3) vom analytischen zum holistischen Hören. Diese Entwicklungsverläufe dürfen jedoch nicht so verstanden werden, daß eine Hörstrategie die andere ablöst. Musikwahrnehmung ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, die im Laufe der musikalischen Wahrnehmungsentwicklung erworbenen Hörstrategien flexibel und adäquat einzusetzen.
Musikpräferenzen in der Vorpubertät - Wandel von der Elternorientierung zur Peergruppenorientierung Music preferences in pre-puberty - change from parental orientation to peer group orientation [*]
Die Absicht zweier aufeinander bezogener Studien bestand darin, die Übergangspunkte in der Veränderung musikalischer Präferenzen im Jugendalter herauszufinden. Ältere Theorien nahmen an, daß der Übergang, durch den eine Veränderung der Präferenzen von der Eltern- zu einer Peergruppenorientierung verursacht wird, in einem Alter zwischen 11 und 14 Jahren stattfindet. Die erste Studie zeigt, daß von 141 Schülern im Alter von rund 12 Jahren 87 Prozent die Präferenzen der Peergruppenorientierung bereits erreicht hatte. Daraus folgerte, daß, wenn es überhaupt einen Wechsel gibt, dieser schon in einem früheren Altersstadium passiert sein mußte. Entsprechend wurde unter 9 bis 11jährigen Schülern eine zweite Studie durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen wiederum keine alters- oder schulklassenbezogene Veränderung der Musikvorlieben. Eine signifikante Beziehung wurde jedoch herausgefunden zwischen der musikalischen Präferenz und der selbst eingeschätzten Folgsamkeit der Schüler: Eine hohe Einschätzung der Folgsamkeit war verknüpft mit den elternorientierten, eine niedrige mit den peergruppenorientierten Musikpräferenzen. Die Autoren schlagen vor, weitere Untersuchungen zu der Hypothese durch zuführen, daß die Entwicklung einer allgemeinen Folgsamkeit die Hauptvariable sein dürfte und die Musikpräferenz eher ein Nebenprodukt.
Die feinen Unterschiede zwischen verbalen und klingenden Musikpräferenzen Jugendlicher. Eine computerunterstützte Befragung mit dem Fragebogen-Autorensystem-Multi-Media The subtle differences between verbal and sounding music preferences of young people. A computer-assisted survey with the questionnaire authoring system Multi-Media [*]
Musikgeschmack wird als Urteil über Genrebegriffe (verbale Präferenzen) sowie als Urteil über erklingende Musikbeispiele (klingende Präferenzen) untersucht. Verglichen mit anderen kulturellen Vorlieben differenziert der Musikgeschmack stärker zwischen sozialen Gruppierungen. Überprüft wird die Hypothese, daß erklingende Musikbeispiele besser bewertet werden als die entsprechenden Genres, weil verbale Präferenzen in stärkerem Maße als klingende Präferenzen der Distinktion dienen. Zur Datenerhebung wurde das Fragebogen-Autorensystem MultiMedia FrAuMuMe ein gesetzt, das klingende und audiovisuelle Fragebögen auf dem Computer präsentiert. Befragt wurden 234 Jugendliche. Mit einer Ausnahme wurden alle Genres besser bewertet als die entsprechenden Musikbeispiele. Jugendliche, die mehr Sympathie gegenüber erklingender Musik als gegen über Genrebegriffen bekunden, werden mit denjenigen verglichen, die Genres höher bewerten als erklingende Musik. Befunde für die unter schiedliche Verwendung von Genrebegriffen durch die Befragten werden präsentiert. Die in der Kultur-, Medien- und Jugendforschung übliche Beschränkung auf die Erhebung von Genrepräferenzen erweist sich als unzureichend zur Untersuchung musikalischen Geschmacks.
Transkranielle Dopplersonographie und musikalische Wahrnehmung Transcranial Doppler sonography and musical perception [*]
Es wurde eine Studie an der arteria cerebri media mit Hilfe der Transkraniellen Dopplersonographie (TCD) durchgeführt, um Veränderungen in der mittleren Blutflußgeschwindigkeit während des Hörens unterschiedlicher Musikbeispiele zu untersuchen. Die Blutflußgeschwindigkeit gilt als Indikator für die erhöhte Aktivität einer Hemisphäre (Lateralisation). Vierundzwanzig rechtshändige Probanden wurden in einer Ruhephase und während des Hörens der Beispiele mit Sprache, rhythmisch betonter und „harmonisch betonter" Musik getestet. Das Geschlecht, die musikalische Erfahrung und die Hörweise der Probanden wurden als unabhängige Variablen gewählt, die Hörbeispiele und die Messungen an linker und rechter Hemisphäre stellten die meßwiederholten Faktoren dar. Unsere Ergebnisse zeigen, daß musikalische Laien und Fachleute unterschiedliche Strategien der Lateralisation besitzen. Laien zeigten bei der Wahrnehmung von Harmonien ein Anwachsen der Blutflußgeschwindigkeit in der rechten Hemisphäre, aber nicht während eines rhythmisch betonten Musikbeispiels. In allen Gruppen war die Wahrnehmung von Sprache links lateralisiert. Die Musiker zeigten vorwiegend linkshemisphärische Aktivierung, die unabhängig von der Art des Hörbeispiels war. Probanden, die Musik eher im Hintergrund hörten, zeigten höhere rechtshemisphärische Werte während der Wahrnehmung von harmonisch-melodisch betonter Musik, unabhängig von ihrer musikalischen Erfahrung. Die Zeitdauer bis der Höhepunkt der Lateralisation erreicht war, dauerte signifikant länger bei Laien, dies galt für das rhythmisch und das „harmonisch betonte" Hörbeispiel.