Jahrbuch-Archiv: Band 14 (1999)

Band 14: Musikpsychologie – Wahrnehmung und Rezeption
Band 14 wurde herausgegeben von Klaus-Ernst Behne, Günter Kleinen und Helga de la Motte-Haber.
Der gedruckte Band ist 1999 im Hogrefe-Verlag erschienen. Die Nutzungsrechte wurden durch die DGM zurückerworben und die Beiträge 2020 als OpenAccess-Publikation zur kostenlosen, freien Verwendung unter der CC-BY 4.0 Lizenz an dieser Stelle neu veröffentlicht.
Alle Beiträge liegen als durchsuchbares PDF vor, sind mit einer DOI versehen und in der PubPsych/PSYNDEX-Datenbank recherchierbar. Beitragstitel und Zusammenfassungen werden konsequent in deutscher und englischer Sprache angegeben.
Mit [*] gekennzeichnete Titel und Zusammenfassungen wurden aus der Ursprungssprache maschinell mit www.deepl.com übersetzt.
Forschungsberichte zum Themenschwerpunkt
Zu einer Theorie der Wirkungslosigkeit von (Hintergrund-)Musik On a theory of the ineffectiveness of (background) music [*]
Ausgangspunkt dieses Textes ist eine Meta-Analyse von 153 empirischen Studien, in denen die Effekte von (Hintergrund-) Musik auf nicht-musikalisches Verhalten untersucht wurden. Ein Drittel dieser Studien konnte keine signifikanten Effekte der Musik belegen, wobei sich in den 90er Jahren eine steigende Tendenz zeigte. Will man Studien mit nicht-signifikantem Ergebnis im Sinne einer Wirkungslosigkeit der Musik interpretieren, so gilt es solche Eigenarten der experimentellen Methodik sowie des Wissenschaftsbetriebes zu berücksichtigen, die zu einer Unter- bzw. Überschätzung der tatsächlichen Wirkungslosigkeit von Musik führen könnten. Vor diesem Hintergrund wird die Behauptung untermauert, daß gegenwärtig in jenen Situationen, in denen wir alltäglich Musik hören, in mehr als der Hälfte der Fälle keine Effekte der Musik erwartet werden dürfen. Als wichtigste Ursache für diese Entwicklung wird Habitualisierung durch extreme mediale Verfügbarkeit der Musik vermutet. Die Bedeutsamkeit alltags-musikpsychologischer Theorien für die Effekte von Musik wird am Beispiel einer in Vergessenheit geratenen Studie von Baker (1937) belegt. Abschließend werden Hypothesen und Aspekte einer Theorie der Wirkungslosigkeit von Musik diskutiert.
100 Jahre musikalische Rezeptionsforschung. Ein Rückblick in die Zukunft 100 years of musical reception research. A look back into the future [*]
Dieser wissenschaftshistorische Beitrag versucht die Anfänge der musik psychologischen Rezeptionsforschung sowie ihre gegenwärtige Situation hinsichtlich ihrer Fragestellungen und methodischen Ansätze zu charakterisieren. Es wird herausgearbeitet, daß es zu Beginn der Rezeptionsforschung nicht nur experimentell-quantitative, sondern auch empirisch fundierte qualitative und phänomenologische Forschungsansätze gegeben hat. Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte hat sich jedoch eine einseitige Vorherrschaft experimentell-kognitivistischer Forschungsansätze herausgebildet. An einigen Beispielen aus der jüngsten Literatur wird gezeigt, daß es der kognitivistisch-experimentellen Forschung oftmals an praktischer Relevanz mangelt. Um die praktische Relevanz und ökologische Validität musikalischer Rezeptionsforschung zu erhöhen, schlägt der Verfasser einige Perspektiven vor. Zu diesen zählen ein Abschied vom Leitbild der experimentellen Naturwissenschaft, Methodenvielfalt, die verstärkte Berücksichtigung des situativen Kontextes der Musikrezeption und sensumotorischer Prozesse sowie ein stärkerer Alltagsbezug der Fragestellungen. Schließlich wird darauf hingewiesen, daß die Rezeptionsforschung einer historischen Perspektive bedarf, um sich ihrer Wissenschaftsgeschichte bewußt zu werden und um den zeit- und kulturbezogenen Wandel musikalischer Rezeptionsweisen zu rekonstruieren.
Entspannung durch Musik-Entspannungskassetten? Physiologische Befunde und ihre Aussage Relaxation through music relaxation tapes? Physiological findings and their statement [*]
In der vorliegenden Studie wurde die Wirkung von Musik einer Entspannungs-CD mit dem Titel „In 15 Minuten frisch und ausgeglichen" getestet und mit einer Kontrollgruppe verglichen. Gemessen wurden physiologische Daten (u.a. Herzfrequenz, Blutdruck). Verglichen mit der Experimentalgruppe, die Musik von der „Entspannungs"-CD hörte, zeigte sich erstaunlicherweise ein größerer Entspannungseffekt für die Kontrollgruppe ohne Musik.
Die Leistung der Sprache für ein Verständnis musikalischer Wahrnehmungsprozesse The power of language for an understanding of musical perception processes [*]
Ausgangspunkt ist die Hypothese, daß eine linguistische Analyse sprachlicher Äußerungen zur inneren Erfahrung der Musik einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis musikalischer Wahrnehmungsprozesse leisten kann. Es wurde ein Experiment veranstaltet, in dem insgesamt 118 Pro banden ihre spontanen Reaktionen auf vier Beispiele klingender Musik unterschiedlicher Bekanntheit notierten. Eine Inhaltsanalyse der dokumentierten Texte belegt eindrucksvoll die Tatsache, daß jegliches Denken in Musik (Wertung, Zuordnung, Interpretation, biographischer Zusammenhang, Alltagserfahrung) einschließlich der wichtigsten, die Musik be treffenden Metaphern (Botschaft, Emotion, Raum, Zeit), vermittelt über allgemeine Vorstellungsschemata auf körperliche Empfindungen zurück geht. Einige Kategorien der Inhaltsanalyse werden als Beispiele herausgegriffen und für sich sowie hinsichtlich ihrer Stellung in den typischen bottom-up-Prozessen erläutert. Eine Kontingenzanalyse belegt die Zusammenhänge auch gemäß ihrer statistischen Relevanz, so daß das Beziehungsgeflecht in eine systematische Anordnung gebracht und anschaulich gemacht werden kann. Als Konsequenz dürften qualitative Verfahren als angemessen für eine Untersuchung musikalischer Kognitionen angesehen werden; speziell sollte die Auswertung sprachlicher Äußerungen in das Methodenrepertoire der Musikpsychologie einbezogen werden.
Hemisphärenasymmetrien bei der Beurteilung von Musik Hemispheric asymmetries in the assessment of music [*]
Musik und Gefühle stehen in enger Beziehung. Diese enge Verflechtung von Musik und Gefühlen läßt sich mit demjenigen Ansatz am besten erklären, der die Dominanz der rechten Hemisphäre bei der Musik- und Gefühlswahrnehmung sowie der Musik- und Gefühlsproduktion postuliert. Die rechte Hemisphäre ist für Musik- und Gefühlsereignisse geeignet, weil sie für den Umgang mit dem Charakteristischen dieser Ereignisse, nämlich ihrer Gestalthaftigkeit und ihrer besonderen Qualität, spezialisiert ist. Aber auch die linke Hemisphäre ist an Musikereignissen beteiligt. Sie ist spezialisiert für zeitliche Aspekte der Musik. Im Experiment nahmen die Vpn Musikstücke entweder monaural (rechts, links) oder biaural wahr. Dabei wurde davon ausgegangen, daß mit dem rechten Ohr gehörte Musik linkshemisphärisch verarbeitet wird, mit dem linken Ohr wahrgenommene Musik dagegen rechtshemisphärisch. Die Musikstücke variierten bezüglich der Faktoren Aktivation (aktivierende vs. beruhigende Musik) und ihrer Valenz (positive vs. negative Musik). Aus der Kombination dieser beiden dichotomen Faktoren ergaben sich vier Musiktypen: Positiv-aktivierende, positiv-beruhigende, negativ-aktivierende und negativ-beruhigende Musik. Überprüft wurde mithilfe verschiedener Skalen, wie diese Musiktypen wahrgenommen wurden, sowie der Einfluß der Musik auf Verhaltenstendenzen, die eine der drei ein Gefühl definierenden Komponenten ausmachen. Vermutet wurde, daß sich Hemisphärenasymmetrien in der Wahrnehmung der Musik auswirken, nicht aber in den Verhaltenstendenzen, die vielmehr durch das von der Musik erzeugte Gefühl beeinflußt werden. Es zeigte sich, daß die rechte Hemisphäre besser geeignet ist, die Valenz der Musik wahrzunehmen, als die linke Hemisphäre. Dieses Ergebnis spricht für die Dominanz der rechten Hemisphäre bei der Musikwahrnehmung. Mit der linken, und insbesondere mit beiden Hemisphären gehörte Musik wird als schneller beurteilt als rechtshemisphärisch wahrgenommene Musik. Dieses Ergebnis deutet an, daß die linke Hemisphäre das Tempo der sich in der Zeit entwickelnden rechtshemisphärisch analysier ten Tongestalt abschätzt und dabei das tatsächlich hohe Tempo ermittelt. Hypothesengemäß wirken die Hemisphärenasymmetrien nicht in die Verhaltenstendenzen hinein.
Freie Forschungsberichte
Factors and Abilities Influencing the Development of Musical Performance Faktoren und Fähigkeiten, die die Entwicklung der musikalischen Darbietung beeinflussen [*]
Unter High-School Instrumentalisten wurde eine 3-jährige Längsschnittstudie durchgeführt. In ihr wurden Repertoirekenntnisse getestet sowie die Fähigkeiten des Blattlesens, nach dem Gehör zu spielen, Auswendig lernen und Improvisieren. Einflüsse auf diese Fähigkeiten wurden mit standardisierten Interviews gemessen; durch eine Pfadanalyse wurden vier Faktoren des Einflusses ermittelt. Die Studie ist nutzbringend auf die Verbesserung des Instrumentalunterrichts anzuwenden.
Expression and Meaning in Tasol: Hedonic Effects of Development vs. Chance in Resolved and Unresolved Aural Episodes Ausdruck und Bedeutung in Tasol: Hedonische Effekte von Entwicklung vs. Zufall in gelösten und ungelösten Gehörschäden [*]
Der vorliegende Bericht beschreibt eine Studie, in der einzelne sowie kombinierte Effekte struktureller Parameter einer vollständigen theatralisch musikalischen Performance (Tasol) experimentell überprüft wurden. Der Autor des Stücks war dabei gleichzeitig auch der Leiter des psychologischen Experiments. Die Studie war speziell darauf angelegt, die Effekte einer klassischen (herkömmlichen) bzw. zufälligen Anordnung sowie der Darbietungsweise auf die Bewertung zu ermitteln. Vier Versuchsgruppen in Lahti, Amsterdam, Rotterdam und San Diego (N = 184), die aufgrund ihrer ästhetischen Erfahrungen in zwei Untergruppen klassifiziert wurden, beurteilten (in Kleingruppen) acht Versionen des Originals (2 x 2 x 2 between subjects design), die als schwarz-weiße Videos dargeboten wurden. Die orthogonalen Faktoren repräsentierten die drei konstitutiven Elemente des Stücks, wobei das im folgenden jeweils zuerst genannte für die Originalversion steht: (a) Entwicklung und Höhepunkt vs. zufällige Anordnung; (b) Tod vs. Nicht-Tod der Akteure; (c) respiratorische (Niesen, Lachen, Keuchen) vs. instrumentale (drei Spielzeuginstr.) Klangereignisse. Quasi-Tasol, die dem Original am ähnlichsten gestaltete Videoversion, wurde auf den bei den zentralen psychoästhetischen Dimensionen (Gefallen, Interesse) mit Abstand am höchsten eingestuft. Auf der Interesse-Skala galt dies für beide Untergruppen, auf der Gefallens-Skala nur für die ästhetisch Erfahreneren. Die partiell sich zeigenden Effekte auf weiteren Skalen könnten indirekt erklären, weshalb Zufallselemente, außer bei Minderheiten, kaum Akzeptanz finden dürften.