Forschungsberichte

„Die Lücke schließen zwischen Unterricht und Musizierpraxis“ – eine qualitative Studie zur Evaluation spezifischer pädagogischer Elemente im Bereich körperorientierter Gesundheitsförderung und Prävention bei Musikstudierenden

“Closing the Gap Between Education and Music Practice” – A Qualitative Study on Pedagogical Tools Aimed at Teaching University Music Students Preventive and Body-Oriented Approaches

Claudia Spahn*a, Anna Immerza, Manfred Nussecka

Jahrbuch Musikpsychologie, 2020, Vol. 29: Musikpsychologie — Musik im audiovisuellen Kontext, Artikel e45, https://doi.org/10.5964/jbdgm.2019v29.45

Eingereicht: 2019-04-25. Akzeptiert: 2019-12-04. Publiziert (VoR): 2020-05-05.

Begutachtet von: Vera Gehrs; Günther Rötter.

*Korrespondenzanschrift: Freiburger Institut für Musikermedizin, Universitätsklinikum Freiburg, Elsässerstraße 2m, 79110 Freiburg, Deutschland. E-Mail: c.spahn@mh-freiburg.de

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Zusammenfassung

Angestoßen durch empirische Vorbefunde, die eine Diskrepanz zwischen der Inanspruchnahme präventiver Lehrangebote im Musikstudium und der Anwendung dieser Inhalte in der Musizierpraxis der Studierenden vermuten lassen, wurden ergänzende pädagogische Elemente eines Unterrichtskonzepts entwickelt und erprobt, um Studierende darin zu unterstützen, im Seminar erlernte körperorientierte und mentale Ansätze insbesondere in der Musizierpraxis außerhalb des Seminars anzuwenden. Übergeordnete Ziele dieser Lerninhalte sind die Gesundheitsförderung und Prävention spielbezogener Beschwerden sowie die Verbesserung des Singens und Instrumentalspiels. Als neue pädagogische Elemente wurden unter Supervision einer Dozentin die Intersession-Prozesse zwischen den Seminarstunden im Gespräch mit den Studierenden in den Fokus genommen und in Lernportfolios und Wochenprotokollen von den Studierenden festgehalten. Das Üben der Studierenden wurde durch einen Übebesuch mit konstruktiven Empfehlungen für ein effektives und gesundes Üben unterstützt. Das Element des Übebesuchs wurde von den Studierenden durchweg sehr positiv angenommen und als hilfreich erlebt. In einer katamnestischen Befragung zeigte sich in den Angaben der Studierenden eine hohe Nachhaltigkeit hinsichtlich der weiteren Anwendung der im Seminar erlernten Inhalte.

Schlüsselwörter: Musikstudierende, Prävention, Bewegung, Gesundheit, pädagogisches Konzept, Wissenstransfer, körperorientierte Ansätze, qualitativ

Abstract

Health problems have been widely documented as a particular topic among students at music conservatoires. Study results suggest that the transfer of learning contents of preventive courses into the practice of music students is often unsatisfactory. The aim of the present study was therefore to complete a pedagogical approach by new elements for the promotion of teaching-practice transfer and to qualitatively examine their effect on music students of a seminar on body-oriented and mental techniques. The overarching goals of these learning contents are health promotion and the prevention of playing-related health problems as well as the improvement of singing and instrumental playing. As new elements, the intersession processes between the seminar sessions were brought into focus under the supervision of a lecturer, and the practicing of the students was supported by a practice-visit by the lecturer which included constructive recommendations for healthy and effective practice. The concept was very positively accepted by the students and experienced as helpful. In a catamnestic questioning the data of the students showed a high sustainability regarding the further application of the contents learned in the seminar.

Keywords: university music students, prevention, movement, health, pedagogical concept, transfer, body-oriented approaches, qualitative

In einer Vielzahl von Untersuchungen zeigte sich, dass Musikstudierende während ihres Studiums unter gesundheitlichen Beschwerden leiden (Araújo et al., 2017; Ginsborg, Spahn & Williamon, 2012; Kreutz, Ginsborg & Williamon, 2008; Lonsdale & Boon, 2016; Spahn, Richter & Zschocke, 2002; Spahn, Strukely & Lehmann, 2004; Williamon & Thompson, 2006). Um dem Auftreten von Schmerzen und Überlastungssyndromen sowie psychischen Symptomen entgegenzuwirken, werden mittlerweile Lehrveranstaltungen angeboten, welche die Körperwahrnehmung und die Durchführung von Spielbewegungen sowie den Umgang mit der eigenen Person und mit entsprechenden psychischen und körperlichen Anforderungen im Musikstudium verbessern (Árnason, Briem & Árnason, 2018; Zander, Voltmer & Spahn, 2010).

Spahn et al. (2017) untersuchten in einer Multizenter-Studie an fünf deutschen Musikhochschulen sowohl musikerspezifische Spielbeschwerden als auch die Inanspruchnahme präventiver Lehrangebote und Maßnahmen. Bei der ersten Erhebung zu Beginn des Musikstudiums nahmen 288 Studierende teil, ein Jahr später, zu Beginn des dritten Semesters, 142 Studierende und zu Beginn des letzten Studienjahres 75 Studierende. Bei der ersten Erhebung berichtete die Hälfte und bei der zweiten und dritten Erhebung berichteten mehr als drei Viertel der Studierenden die Inanspruchnahme präventiver Lehrangebote. Insgesamt hatten 96 % der befragten Studierenden mindestens einmal im Studium ein präventives Lehrangebot besucht. Ein Drittel aller Studierenden gab gleichzeitig an, unter Spielbeschwerden im Laufe des Studiums gelitten zu haben.

Árnason et al. (2018) untersuchten die Effekte eines Lehrangebotes bei Musikstudierenden auf die Körperwahrnehmung und die Anwendung präventiver Maßnahmen sowie auf die Einstellung zu Gesundheit und Prävention in einem Interventions-/Kontrollgruppen-Design. Das Lehrangebot bestand pro Semester aus vier Unterrichtsterminen mit Vorträgen zu physiologischen Grundlagen von Bewegung sowie Risikofaktoren von Überlastungssyndromen bei Musikern und aus zehn Unterrichtsterminen mit praktischen Übungen. Letztere bezogen sich auf die optimale Position mit dem Instrument und die Vermittlung unterschiedlicher spezifischer Körperübungen. In einem Beobachtungszeitraum von neun Monaten (zwei Semestern) zeigten sich zwischen der prä- und der post-Messung signifikante Interaktionseffekte mit einer verbesserten Körperwahrnehmung während des Übens und einem Anstieg gesundheitsfördernder Maßnahmen wie warm-ups vor dem Spielen des Instruments in der Interventionsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe. Keine signifikanten Effekte zeigten sich hinsichtlich der Übungen zur Prävention spielbezogener Beschwerden.

Perkins et al. (2017) wählten in ihrer Untersuchung zu förderlichen und behindernden Faktoren für Gesundheit bei Studierenden an Konservatorien in England einen qualitativen Ansatz. Sie führten halbstrukturierte Interviews mit zwanzig Musikstudierenden und gewannen durch induktive Auswertung des Materials Faktoren, welche aus Sicht der Studierenden Gesundheit bzw. Prävention im Studium erleichtern und erschweren. Als wichtige positive Faktoren wurden hierbei unter anderen „hilfreiche Übe- und Lernstrategien“ und „positives Körpererleben und bewusste Haltung beim Spielen des Instruments“ deutlich. Als gesundheitsförderliche Techniken wurden Entspannungsverfahren und Körpermethoden berichtet. Als erschwerender Faktor für Prävention wurde von Studierenden genannt, dass sie „sich beim Üben allein fühlten“. Die Autor*innen interpretieren ihre Ergebnisse dahingehend, dass der Fokus von Prävention in Musikhochschulen und Konservatorien stärker personen- und weniger symptomorientiert erfolgen sollte und dass Ansätze in der Prävention neben individuellen Faktoren Fragen des musikerspezifischen Alltags und settingbezogene Themen berücksichtigen sollten.

Aus den dargestellten Forschungsergebnissen wird deutlich, dass Anwendungen wie warm-ups von Studierenden beim Üben umgesetzt werden konnten (Árnason et al., 2018), dass sich Studierende bei der Anwendung solcher und ähnlicher gesundheitsorientierter Praktiken für das Üben jedoch pädagogische Unterstützung wünschen (Perkins et al., 2017).

Die Ergebnisse der Multizenter-Studie (Spahn et al., 2017), die trotz sehr hoher Inanspruchnahme von präventiven Lehrangeboten einen nach wie vor relevanten Anteil an Studierenden mit Spielbeschwerden zeigten, lassen eine Lücke zwischen der Vermittlung präventiver Inhalte und deren effektiver Anwendung in der Musizierpraxis vermuten. Hierdurch rückt das Thema des Transfers in den Fokus. Beobachtungen aus der Perspektive von Lehrenden, die langjährige Erfahrung im Unterrichten von körperorientierten und mentalen Ansätzen für Musikstudierende besitzen, ergaben hierzu übereinstimmend, dass es Studierenden in der Regel schwerfiel, im Seminar erlernte Inhalte und praktische Übungen kontinuierlich zu verfolgen und in die tägliche musikalische Praxis, insbesondere in die Übesituation, zu übertragen.

Ziel der vorliegenden Studie war es deshalb, spezifische pädagogische Elemente zur Förderung des Unterrichts-Praxis-Transfers zu entwickeln und deren Wirkung bei Musikstudierenden eines Seminars zu körperorientierten und mentalen Ansätzen qualitativ zu untersuchen. Im Fokus stand dabei die Übesituation. Durch Integration der im Seminar erlernten Grundlagen und Übungen in die Musizierpraxis sollte bei den Studierenden die Körper- und Selbstwahrnehmung im Sinne der Gesundheitsförderung verbessert und insgesamt die Prävention spielbezogener Beschwerden beim Singen und Instrumentalspiel erreicht werden.

Im Folgenden werden das Unterrichtskonzept und die Erfahrungen durch die Studierenden beschrieben. Darüber hinaus werden Aussagen zur Nachhaltigkeit des pädagogischen Ansatzes unter Berücksichtigung der neuen Elemente getroffen.

Fragestellung

Folgende Fragestellungen wurden verfolgt:

1. Wie werden die konzeptuellen Elemente, die in Ergänzung des pädagogischen Ansatzes für die Unterstützung des Transfers Unterricht – Spielpraxis entwickelt wurden, von den Studierenden in ihrer Wirkung beschrieben und wie werden sie angenommen?

2. Welche Nachhaltigkeit in der Wirkung dieser pädagogischen Elemente lässt sich über das Seminar hinaus erkennen?

Konzept und Durchführung des Seminars

Inhalte und Umfang des Seminars zu körperorientierten Ansätzen für Musiker*innen

Das Seminar „Atem, Bewegung, Konzentration“ kann von Studierenden sowohl im Bachelor- als auch im Masterstudiengang als Wahlfach belegt werden. Die Gruppengröße liegt bei maximal 14 Studierenden. Das Seminar findet während eines Semesters wöchentlich in neunzigminütigen Sitzungen statt. Im Seminar wird den Studierenden ein breites Repertoire von insgesamt 30-40 körperorientierten Übungen praktisch vermittelt, die unterschiedlich miteinander kombinierbar sind. Diese entstammen den Methoden Feldenkrais-Methode, Alexander-Technik, Movement-Studies, Qigong, Konzept Schlaffhorst-Andersen, Entspannungsverfahren (Autogenes Training und Progressive Muskelrelaxation) sowie dem Bereich mentaler Techniken. Eine genaue Beschreibung der Übungen findet sich im Buch von Spahn (2017) „Körperorientierte Ansätze für Musiker“, welches den Teilnehmenden des Seminars als Lektüre zur Verfügung stand.

Die Übungen aus den genannten Methoden wurden nacheinander von fünf Dozent*innen unterrichtet, die jeweils in mindestens einer dieser Methoden ausgebildet sind und über langjährige Erfahrung im Fach Musikphysiologie/Musikermedizin verfügen. Drei der fünf Dozent*innen sind professionelle Bühnenkünstlerinnen (zwei Musikerinnen und eine Schauspielerin). Herkunft und Hintergrund der Übungen wurden den Studierenden jeweils mitgeteilt, der Schwerpunkt des Seminars lag jedoch nicht auf dem Erlernen der jeweiligen Methode, sondern auf der praktischen Durchführung der Übungen und ihrer Eignung und Anwendung in typischen Situationen des Musikeralltags wie beim Üben oder bei Auftritten (Konzerten, Vortragsabenden, Probespielen).

Gemeinsame übergeordnete Ziele des Seminars waren die Sensibilisierung der Körperwahrnehmung im Zusammenhang mit der Atmung, den Bewegungen beim Spielen und Singen sowie hinsichtlich persönlicher Grenzen von Belastbarkeit. Im Mittelpunkt standen ferner eine optimale Aufrichtung im Stehen und Sitzen und die entsprechende Gestaltung mit dem Instrument. Ausgehend von der Körperwahrnehmung wurden psychosomatische Zusammenhänge hergestellt und mentale und kognitive Wechselwirkungen erfahrbar gemacht, um die notwendige Konzentration beim Musizieren in verschiedenen Situationen zu erreichen. Teilweise wurde im Seminar auch mit dem Instrument gearbeitet. Der Unterrichtsansatz war personenzentriert – jede*r Teilnehmende sollte aus dem Repertoire der Übungen im Seminar eine persönliche Auswahl für seine oder ihre Bedürfnisse treffen. Zu Beginn und am Ende des Seminars fand der Unterricht unter Anwesenheit aller Dozent*innen statt, sodass für die Studierenden der Zusammenhang innerhalb des Seminars sichtbar wurde und Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen deutlich gemacht werden konnten. Als Seminarangebot im Fach Musikphysiologie/Musikermedizin unterliegen die Lerninhalte sowohl dem Ziel der Gesundheitsförderung der Studierenden und der Prävention musikerspezifischer gesundheitlicher Probleme als auch dem Ziel der Verbesserung des Singens und Instrumentalspiels.

Pädagogische Elemente zur Förderung des Transfers Unterricht – Spielpraxis

Fokussierung auf Anwendungskontexte und Intersession-Prozesse

Die sechste Lehrperson war als Dozentin in allen Seminarstunden anwesend und bildete damit die personelle Kontinuität. Sie achtete insbesondere darauf, dass zum Ende jeder Seminarstunde die Teilnehmenden sich darüber bewusst wurden, welche Übung(en) sie in der folgenden Woche mit welchem Ziel anwenden wollten (vgl. Lernportfolio). Durch die schriftliche Niederlegung im Lernportfolio wurde ein persönliches Vorhaben der einzelnen Teilnehmenden für die Woche zwischen den Seminarstunden festgelegt. Zu Beginn der nächsten Seminarstunde erfragte die Dozentin die Erfahrungen der zurückliegenden Woche, die zudem von den Teilnehmenden protokolliert wurden (vgl. Wochenprotokoll). Die starke Gewichtung auf die Erfahrungen mit den Übungen in der Woche zwischen den Seminarstunden sollte die Studierenden darin unterstützen, sich kontinuierlich mit den Seminarinhalten zu beschäftigen und sie in der Übesituation und in anderen Spielkontexten anzuwenden und an die persönlichen Erfordernisse – Instrument, Situation etc. – zu adaptieren.

Lernportfolio

Am Ende jeder Sitzung dokumentierten die Studierenden im Lernportfolio das Thema der Stunde, ihre Lieblingsübung(en) und das Ziel der Übung(en). Beides wurde zuvor in der Gruppe mit der Dozentin reflektiert. Darüber hinaus notierten die Studierenden, wie sie planen, die Übung(en) beim Üben/Spielen ihres Instruments in der darauffolgenden Woche anzuwenden.

Im Laufe der Woche zwischen den Seminarterminen hielten die Studierenden ihre persönlichen Erfahrungen als Wochenreflexion im Lernportfolio fest. Diese Erfahrungen wurden zu Beginn jeder Seminarsitzung im Plenum ausgetauscht und besprochen.

Wochenprotokoll

Im Wochenprotokoll dokumentierten die Studierenden ihre durchschnittliche Übezeit pro Tag, wieviel Zeit sie dabei für die Durchführung von Übungen aus dem Seminar verwendet hatten und welche Erfahrungen sie damit gemacht hatten. Diese wurden zu Beginn jeder Stunde von der Dozentin aufgegriffen.

Übebesuch

Der Übebesuch wurde als zusätzliches, eigenes Element von derjenigen Dozentin, die in allen Seminarstunden anwesend war, während der letzten Wochen des Semesters mit jeder und jedem Teilnehmenden des Seminars durchgeführt.

Er wurde individuell terminiert und fand in einem der Überäume für Studierende der Hochschule statt. Der Übebesuch dauerte fünfundvierzig Minuten und bestand aus einer Beobachtungsphase (20 Minuten) durch die Dozentin zu Beginn – die Studierenden übten hier selbstbestimmt ohne inhaltliche Vorgaben – mit anschließendem Feedback durch die Dozentin (5 Minuten) und einer Erprobungs- und Austauschphase (10 Minuten) mit abschließendem Fazit (10 Minuten). Der inhaltliche Fokus des Übebesuchs lag darauf, in welcher Weise Inhalte aus dem Seminar gewinnbringend für das individuelle Üben eingesetzt werden können. Die Studierenden wurden vor dem Übebesuch um ihr Einverständnis gebeten und über Ablauf und Inhalt des Übebesuchs informiert. Von jedem Übebesuch wurde von der Dozentin ein Protokoll angefertigt, das stichpunktartig die Inhalte der oben beschriebenen Phasen enthält.

Methode

In der vorliegenden Studie stand die qualitative Analyse von Texten der Studierenden und der Dozentin im Mittelpunkt. Sofern die Textaussagen in ihrer Begrifflichkeit eindeutig waren – z.B. Bezeichnung von Übungen wie „Autogenes Training“, Benennung von Körpermethoden wie „Alexander-Technik“, „Feldenkrais-Methode“ u.a. – wurden auch quantitative Angaben hinzugefügt.

Darüber hinaus wurden im Katamnese-Fragebogen (siehe Anhang) mehrere Aspekte zum Seminar quantitativ erhoben und ausgewertet.

Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring

Das in der Untersuchung gewonnene Textmaterial wurde nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring ausgewertet (Mayring, 2010). Das Textmaterial setzt sich zusammen aus:

1. Textabschnitten aus den Wochenprotokollen (durch die Studierenden)

2. Freitexten im Katamnese-Fragebogen zur Frage „Welche Inhalte aus dem Seminar wenden Sie in Ihrer musikalischen Praxis jetzt (noch) an?“ und zur Frage „Welchen Inhalt aus dem Übebesuch wenden Sie jetzt noch an?“ (durch die Studierenden)

3. den Protokolltexten der Übebesuche (durch die Dozentin). Das Protokoll wurde von jedem Übesuch angefertigt und enthält Daten zur Person, eine stichwortartige Beschreibung der Beobachtungsphase von 20 Minuten sowie das Fazit der gemeinsamen Reflexion und der Vorschläge für künftiges Üben.

Die Inhaltsanalyse nach Mayring ist ein deduktives Verfahren zur Analyse von Textmaterial. Ziel der Analyse ist es, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern (Mayring, 2010). Hierzu werden Kategorien formuliert, anhand derer das Material strukturiert wird. In der vorliegenden Untersuchung wurde die inhaltliche Strukturierung angewendet, bei der die zu erarbeitende Struktur an Themen, Inhalte[n] und Aspekte[n] des Gesamtmaterials ausgerichtet wird. An einigen Stellen wurde – sofern die inhaltliche strukturelle Zuordnung sehr eindeutig war – die qualitative Analyse durch quantitative Angaben ergänzt.

Quantitative Auswertung

Katamnese-Fragebogen

Der Katamnese-Fragebogen wurde für die vorliegende Untersuchung konzipiert. Er enthält insgesamt sieben Fragen, davon drei Fragen zum Seminar als Ganzem und vier Fragen zum Übebesuch (vgl. Anhang). Fünf der sieben Fragen können als Antwort auf einer fünfstufigen Likert-Skala (von 0 = gar nicht bis 4 = sehr) angekreuzt werden.

31 der 39 Studierenden füllten den Katamnese-Fragebogen aus; der Rücklauf beträgt damit 79,5 %. Von den 31 Studierenden sind 64,5 % weiblich (Frauenanteil in der Gesamtstichprobe 61,4 %). Das Katamneseintervall zwischen Seminarende und Ausfüllen des Fragebogens lag im Mittel bei einem Jahr.

Wochenprotokolle

In den Wochenprotokollen wurden die quantitativen Angaben zur täglichen Übedauer und zum Anteil der Übungen an der Übedauer im Mittel über die drei Seminare errechnet.

Stichprobe

Das Lehrkonzept wurde wie beschrieben im Rahmen des Seminars „Atem, Bewegung, Konzentration“ durchgeführt. Die Stichprobe besteht aus den Studierenden, die das Seminar im Sommersemester 2017, im Wintersemester 2017/18 oder im Sommersemester 2018 besucht haben. Tabelle 1 zeigt Alter und Geschlecht der Studierenden im jeweiligen Semester.

Tabelle 1

Beschreibung der Stichprobe nach Alter, Geschlecht und Seminarzugehörigkeit

Seminar Studierende (N) Alter
Geschlecht (weiblich)
M SD
Sommersemester 2017 11 25,7 2,7 82%
Wintersemester 2017/2018 14 24,8 1,9 50%
Sommersemester 2018 14 23,4 2,9 64%
Gesamt 39 24,5 2,6 64%

Von den insgesamt 39 Studierenden befanden sich 35,9 % (vierzehn Studierende) im Bachelor-Studium (mittleres Studiensemester: M = 5,7; SD = 1,8) und 43,6% (siebzehn Studierende) im Masterstudium (mittleres Studiensemester: M = 2,0; SD = 1,2). 15,4 % (sechs Studierende) studierten Schulmusik und 5,1 % (zwei Studierende) Elementare Musikpädagogik (im 3. und 4. Studiensemester).

Tabelle 2 zeigt die Verteilung der Studierenden in der Stichprobe auf die Hauptfächer Instrumente/Gesang.

Tabelle 2

Beschreibung der Stichprobe nach Hauptfach (N = 39)

Instrumente/Gesang N in %
Tasteninstrumente 11 28,1
Gesang 9 23,1
Streichinstrumente 9 23,1
Holzblasinstrumente 6 15,4
Blechblasinstrumente 2 5,1
Schlagzeug 1 2,6
Gitarre 1 2,6

Statistik

Die statistischen Analysen der quantitativen Daten wurden mit SPSS 25 durchgeführt. Mittelwerte wurden durch die Standardabweichung (SD) ergänzt. Für parametrische Vergleichstests wurde eine Varianzanalyse (ANOVA) durchgeführt. Bei F-Werten kleiner als 1 wurde auf den genauen Wert verzichtet. Die Effektstärken werden über das partielle Eta-Quadrat (η2) angegeben. Korrelationen werden mittels des Pearson’s r Korrelationskoeffizienten dargestellt. Die Signifikanzgrenze wurde bei p = ,05 festgelegt. Bei Überschreitung dieser Grenze wird auf die Nicht-Signifikanz (n.s.) verwiesen.

Ergebnisse

Evaluation des Seminars durch die Studierenden

Auf die Frage, wie sehr das Konzept des Seminars dabei geholfen habe, die dort erlernten Übungen in die musikalische Praxis zu übertragen, antworteten 87 % (27 von 31 Studierenden), das Seminar sei diesbezüglich hilfreich bis sehr hilfreich, 9,7 % (3 Studierende) mittelmäßig hilfreich und 3,2 % (eine Person) wenig hilfreich gewesen. Niemand gab an, das Seminar sei diesbezüglich gar nicht hilfreich gewesen (Abb. 1).

Abb.1

Ergebnisse zu den Fragen des Katamnese-Fragebogens „Wie sehr hat das Konzept des Seminars Ihnen dabei geholfen, die dort erlernten Übungen in Ihre musikalische Praxis zu übertragen?“ und „Würden Sie das Seminar an Mitstudierende weiterempfehlen?“ auf einer fünfstufigen Likert-Skala (von 0 = gar nicht bis 4 = sehr), n = 31.

93,6 % der Studierenden (29 von 31 Studierenden) würden das Seminar sehr stark bis stark an Mitstudierende weiterempfehlen, die restlichen 6,4 % (3 Studierende) würden es mittelmäßig stark weiterempfehlen (Abb. 1).

Nachhaltigkeit der Anwendung von Seminarinhalten

Die Studierenden wurden im Katamnese-Fragebogen mindestens 3 Monate nach Abschluss des Seminars gefragt, welche Inhalte aus dem Seminar sie in ihrer musikalischen Praxis jetzt (noch) anwenden würden. In den Freitextantworten finden sich hierzu 50 Nennungen einzelner Übungen (Tab. 3). Aufgrund der Eindeutigkeit wurden Textaussagen zusätzlich quantifiziert, so dass die qualitativen Ergebnisse durch einige explorative Berechnungen ergänzt wurden.

Tabelle 3

Antworten im Katamnese-Fragebogen (Übungen)

Einzelne Übungen Anzahl Nennungen
Grundübung Autogenes Training 12
Atemblume 7
Monkey-Position 6
Atemübung mit Tennisball 6
Whispered Ah 4
Fliegende Arme 4
Vorwärtsbeuge 4
Lippentriller 3
Marionettenübung 3
Vogel Rock 1

Anmerkung. Freitextantworten auf die Frage im Katamnese-Fragebogen „Welche Inhalte aus dem Seminar wenden Sie in Ihrer musikalischen Praxis jetzt (noch) an?“ Darstellung der Kategorie „Einzelne Übungen“ (insgesamt 50 Nennungen), n = 31. Die einzelnen Übungen sind in Spahn (2017) beschrieben.

Auf dieselbe Frage des Katamnese-Fragebogens fanden sich im Vergleich zu den 50 genannten einzelnen Übungen nur 16 Nennungen, die sich auf die Angabe von Körpermethoden bezogen (vgl. Tab. 4).

Tabelle 4

Antworten im Katamnese-Fragebogen (Körpermethoden)

Körpermethode Häufigkeit der Nennung
Alexander-Technik 10
Feldenkrais-Methode 2
Qigong 2
Tai Chi 1
Konzept Schlaffhorst-Andersen 1

Anmerkung. Freitextantworten auf die Frage im Katamnese-Fragebogen „Welche Inhalte aus dem Seminar wenden Sie in Ihrer musikalischen Praxis jetzt (noch) an?“ Darstellung der Kategorie „Körpermethoden“ (insgesamt 16 Nennungen), n = 31. Die Körpermethoden sind in Spahn (2017) beschrieben.

Anwendung von Seminarinhalten zwischen den Sitzungen

Die Studierenden aller drei Semester (n = 39) übten im Mittel 2,5 Stunden (SD = 1,1) pro Tag und verbrachten dabei im Mittel 9 Minuten (SD = 7,2) mit Übungen, die sie im Seminar erlernt hatten. Zwischen den Semestergruppen gab es keine signifikanten Unterschiede, Übezeit: F(2, 36) < 1,0 und Körperübungen: F(2, 36) = 1,40; p = n.s.; vgl. Tab. 5. Die Dauer der Übezeit korrelierte nicht mit der Dauer der Zeit für körperorientierte Übungen (r = ,13; p = n.s.).

Tabelle 5

Tägliche Übedauern und Zeit der Anwendung von Übungen

Semester Durchschnittliche Übedauer
Dauer der Anwendung von Übungen
M (Std/Tag) SD M (Min/Tag) SD
Sommersemester 2017 2,2 1,1 6,3 3,0
Wintersemester 2017/18 2,6 1,2 9,1 9,8
Sommersemester 2018 2,5 1,2 11,0 5,9
Gesamt 2,5 1,1 9,0 7,2

Anmerkung. Tägliche Übedauern und Zeit der Anwendung von Übungen aus dem Seminar (durchschnittliche Werte über alle Wochen eines Semesters).

Um die Übedauern und die Zeit der Anwendung von Übungen aus dem Seminar im Laufe eines Semesters detaillierter zu betrachten, wurde jeweils ein Semester zeitlich in drei Abschnitte aufgeteilt: (1) in die ersten vier Wochen des Semesters, (2) in die mittleren 4-6 Wochen und (3) in die letzten vier Wochen des Semesters (Vorbereitungswochen für Vorspiele und Prüfungen).

Hinsichtlich der Übedauern gab es in den drei Zeitabschnitten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Semestergruppen (vgl. Tab. 6). Die durchschnittliche Übedauer verringerte sich signifikant im Verlauf der Semester, F(1, 29) = 4,27; p = ,05; η2 = ,13. Ebenfalls gab es eine signifikante Verringerung der Anwendungszeit der Übungen über die drei Zeitabschnitte, F(1, 30) = 6,21, p = ,02; η2 = ,17.

Tabelle 6

Übedauern und Zeit der Anwendung von Übungen im Verlauf eines Semesters

Semester Üben (in Std/Tag)
Übungen S (in Min/Tag)
Abschnitt 1
Abschnitt 2
Abschnitt 3
Abschnitt 1
Abschnitt 2
Abschnitt 3
M SD M SD M SD M SD M SD M SD
Sommersemester 2017 2,3 1,0 2,2 1,1 1,8 1,1 8,3 8,2 5,7 4,0 4,2 2,7
Wintersemester 2017/18 3,0 1,4 2,1 1,4 2,5 1,0 12,2 16,2 6,2 4,1 5,6 5,8
Sommersemester 2018 2,5 1,2 2,5 1,2 2,4 1,1 11,5 8,8 11,9 8,5 9,8 4,3
Gesamt 2,7 1,2 2,3 1,2 2,3 1,1 10,8 11,7 8,1 6,5 6,9 5,1

Anmerkung. Darstellung der mittleren Übedauern (Üben) und der mittleren Dauern von Übungen aus dem Seminar (Übungen S) pro Tag jeweils mit Angabe der Standardabweichung (SD) aufgeteilt in 3 Zeitabschnitte im Laufe eines Semesters (n = 39).

Bei den Anwendungsdauern der Übungen gab es im zweiten und dritten Wochenblock signifikante Unterschiede zwischen den Semestergruppen, Übungen S (2): F(2, 34) = 4,19; p = ,02; η2 = ,20; Übungen S (3): F(2, 32) = 4,94, p = ,01; η2 = ,24.

Die Wochenblöcke der Übedauern korrelieren untereinander mit r > ,60 (p < ,01), d.h. diejenigen, die viel oder wenig üben, tun dies über das ganze Semester hinweg.

Bei den Anwendungsdauern der Übungen korrelieren die Wochenblöcke 2 und 3 sowie 1 und 3 (r > ,60, p < ,01). Nur der erste Wochenblock korreliert nicht signifikant mit dem zweiten (r = ,21, p = n.s.).

Die Aussagen der Studierenden aus den Wochenprotokollen zu ihren Erfahrungen mit der Anwendung von Übungen zwischen den Seminarsitzungen wurden nach den Kategorien (1) Anwendungskontext, (2) Körperwahrnehmung, (3) Spannungsregulation und (4) Ruhe und Konzentration ausgewertet. Im Folgenden werden die Ergebnisse beschrieben und die Kategorien anhand von Ankerbeispielen veranschaulicht.

(1) Anwendungskontext

In den Aussagen der Seminarteilnehmenden findet sich ein breites Spektrum an Situationen, in denen sie Übungen aus dem Seminar anwendeten: vor, während und nach dem Üben, vor Auftritten, zum Einschlafen, in Stresssituationen und in verschiedenen Alltagssituationen. Je nach Situation wurden unterschiedliche Übungen ausgewählt und es wurden verschiedene Ziele verfolgt. Für den Auftritt wurde die optimale Spannung und Konzentration durch Autogenes Training und Atemübungen angestrebt, vor dem Einschlafen sollte Ruhe und Entspannung erreicht werden. Eine Sängerin schrieb zur Übesituation: „Die Übungen sind leicht ins Üben integrierbar. Der Körper fühlt sich nach den Übungen wacher und durchlässiger an.“

(2) Körperwahrnehmung

In den Erfahrungen der Studierenden wurde durchgehend von einer intensiveren und bewussteren Körperwahrnehmung berichtet. Ein Geiger schrieb: „Der eigene Körper wurde viel besser wahrgenommen, v.a. auch sonst eher "unbeachtete“ Körperteile wie zum Beispiel der Rücken beim Atmen.“

(3) Spannungsregulation

Besonders beim Üben und in Vorspielsituationen wurde über Spannungsregulation durch bestimmte Übungen berichtet. Eine Pianistin schrieb: „Ich spiele immer mit viel Spannung in meinen Armen und Schultern. Aber nach der Übung Fliegende Arme habe ich gefühlt, dass meine Arme frei und entspannt geworden sind. Das war unglaublich!“

(4) Ruhe und Konzentration

Ruhe und Konzentration tauchten in unterschiedlichen Kontexten als Ziel von Übungen auf. Eine Pianistin berichtete folgende Erfahrung: „Wenn ich die Übungen mache, fühle ich mich gleich besser und entspannter. Ich bekomme eine höhere Konzentration und Motivation weiter zu üben.“ Eine andere Pianistin schrieb: „Man fühlt sich durch die Übungen besser. Es tut sehr gut, weil man dadurch zur Ruhe kommen kann.“

Insgesamt zeigt sich in den Texten der Studierenden über ihre Erfahrungen mit den Anwendungen der Seminarinhalte eine große Bandbreite des Transfers in die musikalische Praxis.

Übebesuch

Feedback der Studierenden zum Übebesuch

Die Fragen im Katamnese-Fragebogen „Hat Ihnen der Übebesuch im Seminar gefallen?“, „Wie hilfreich haben Sie den Übebesuch im Seminar für die Effektivität Ihres Übens erlebt?“ und „Gestalten Sie durch den Übebesuch Ihr Üben bewusster?“ konnten auf einer fünfstufigen Likert-Skala (von 0 = gar nicht bis 4 = sehr) beantwortet werden. Keiner der Studierenden beantwortete die Fragen mit „gar nicht“; die Mehrzahl antwortete auf der Skalierung zwischen 0 (gar nicht) und 4 (sehr) mit Werten von 3 und 4. Die Ergebnisse sind in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2

Ergebnisse zu den Fragen des Katamnese-Fragebogens „Hat Ihnen der Übebesuch im Seminar gefallen?“, „Wie hilfreich haben Sie den Übebesuch im Seminar für die Effektivität Ihres Übens erlebt?“, „Gestalten Sie durch den Übebesuch Ihr Üben bewusster?“ auf einer fünfstufigen Likert-Skala (von 0 = gar nicht bis 4 = sehr), n = 31.

Transfer der Seminarinhalte in die Übesituation

Die Protokolle der Übebesuche aus der Beobachtungsphase geben Aufschluss, inwiefern und wie häufig die Studierenden beim Üben spontan Inhalte des Seminars angewandt haben. 20 Seminarteilnehmende wendeten während der Beobachtungsphase in den ersten zwanzig Minuten des Übebesuchs Übungen aus dem Seminar an, die als solche beobachtbar und erkennbar waren. Darüber hinaus berichteten Studierende der Dozentin, dass sie sich beim Üben auf ihre Körperwahrnehmung konzentrieren und dabei Vorstellungsbilder anwenden, die sie im Seminar erlernt hatten. Aus der Beobachtungsphase beim Übebesuch entstand insgesamt der Eindruck, dass die Studierenden sehr motiviert waren, die Inhalte aus dem Seminar in der Übepraxis anzuwenden und sie dies auch größtenteils in die Tat umsetzten.

Nachhaltigkeit des Übebesuchs

Zur Frage, welche Inhalte aus dem Übebesuch die Studierenden zum Zeitpunkt der katamnestischen Befragung – mindestens drei Monate nach Abschluss des Seminars – noch anwenden, konnten die Teilnehmenden im Katamnese-Fragebogen Freitextantworten formulieren. Es wurde eine inhaltliche Strukturierung der Angaben anhand derjenigen Kategorien durchgeführt, die für die Nachhaltigkeit der Übebesuche als relevant erachtet wurden. Die Kategorien leiten sich aus den Lernzielen des Seminars und aus den Vorschlägen ab, die im letzten Teil des Übebesuchs im Fazit zusammengefasst wurden. Es ging hierbei (1) um die aktive Beherrschung und Anwendung konkreter Übungen und Maßnahmen sowie (2) um ein funktionelles Verständnis der Bewegungen beim Spielen des Instruments und beim Singen. Ein besonderer Schwerpunkt wurde hierbei auf eine ideale Aufrichtung im Stehen und Sitzen und auf die Atmung gelegt. Verbunden mit diesen verhaltensorientierten Inhalten sollte (3) hinsichtlich der Einstellung eine höhere Bewusstheit in der Gestaltung des Übens erreicht werden.

In den Freitextanworten fanden sich Aussagen in allen drei Kategorien. In der ersten Kategorie (1) wurden an einzelnen Übungen die Monkey-Position, die Entspannungsübung der Progressiven Muskelrelaxation, die Atemübung mit dem Tennisball und die aktive Ruhelage genannt. In der zweiten Kategorie (2) finden sich Aussagen dazu, dass die Aufrichtung im Sitzen und Stehen durch Aufmerksamkeit auf die Sitzbeine, guten Kontakt der Füße mit dem Boden und flexible Verteilung des Gleichgewichts zwischen rechter und linker Seite von den Studierenden hergestellt wird. Hierbei wird auch der Zusammenhang einer optimalen Aufrichtung mit den Spielbewegungen beim Instrumentalspiel genannt. Ein Pianist antwortete auf die Frage im Katamnese-Fragebogen, welchen Inhalt aus dem Übebesuch er jetzt noch anwende, folgendermaßen: „Bei Passagen, in denen beide Hände in äußeren Extremlagen tätig sind, versuche ich die jeweils andere diagonale Rückkopplung bewusst zu spüren und mit dem Körper dann gerade noch mehr zentriert zu bleiben“. Auch der bewusste Umgang mit der Atmung wird genannt. Es finden sich in der dritten Kategorie (3) Textpassagen, dass mit mehr Bewusstheit geübt werde und Spielgewohnheiten verbessert werden konnten. Als konkrete Beispiele hierfür wurden genannt, während des Übens besser auf die Pausengestaltung zu achten und die Position des Notenständers optimal an die eigene Körpergröße anzupassen.

Die Freitextantworten des Katamnese-Fragebogens wurden mit den Vorschlägen für künftiges Üben im Protokoll zum Übebesuch verglichen. Von 27 Studierenden lagen Informationen aus Fragebogen und Protokoll vor. Hierbei zeigte sich, dass alle Studierenden die Vorschläge aus dem Übebesuch in ihren Freitextantworten sehr präzise wiedergaben.

Diskussion

Im Seminar zur Vermittlung körperorientierter und mentaler Übungen, welche das übergeordnete Ziel der Prävention von Spielbeschwerden sowie der Leistungs- und Gesundheitsförderung bei Musikstudierenden verfolgen, wurden spezifische neue pädagogische Elemente entwickelt, welche die Studierenden darin unterstützen sollten, die im Seminar erlernten Inhalte in ihre musikalische Praxis zu übertragen. Diese Elemente bestanden darin, durch Vor- und Nachbereitung der Woche zwischen den Seminarsitzungen unter kontinuierlicher Supervision einer Dozentin sowie durch Übebesuche den Transfer vom Seminar in die Praxis zu fördern.

Die Studierenden gaben überwiegend an, dass sie diese Elemente im Rahmen des Konzepts des Seminars hierfür als sehr hilfreich erlebt hätten. Fast alle Studierenden würden das Seminar mit Nachdruck weiterempfehlen. Diese Rückmeldungen lassen darauf schließen, dass die Studierenden durch die spezifischen pädagogischen Elemente des Seminars dazu angeregt wurden, die erlernten Inhalte in ihre Spiel-, Übe- und Auftrittspraxis zu übertragen.

Ähnliches gilt offensichtlich auch für den Übebesuch als eigenständiges pädagogisches Element. 84% der Studierenden gaben an, dass ihnen der Übebesuch gut bis sehr gut gefallen habe. Dies erscheint nicht selbstverständlich, da es im Musikstudium ungewöhnlich ist, dass Studierende während des Übens in der Übezelle von Lehrenden besucht werden. Alle Studierenden berichteten auch, dass dies ein völlig neues Erlebnis für sie gewesen sei. Kein Studierender und keine Studierende gab die Rückmeldung, sich bedrängt oder in negativer Weise kontrolliert gefühlt zu haben. Im Gegenteil formulierten die meisten Studierenden es als Unterstützung, direkte und praktische Anregungen beim Üben zu erhalten. Diese Rückmeldung deckt sich mit dem Ergebnis der Studie von Perkins et al. (2017), in der die Studierenden praktische Empfehlungen für das Üben als wichtige Inhalte im Sinne der Prävention genannt hatten.

Hinsichtlich des Übebesuchs in unserer Studie ist zu vermuten, dass der Ablauf mit einer zwanzigminütigen Beobachtungsphase, einer Austauschphase und einem ressourcenorientierten Feedback dazu beigetragen hat, dass sich alle Studierenden in dieser Situation respektiert fühlten. So gab die Mehrheit der Teilnehmenden auch an, dass der Übebesuch effektiv für das eigene Üben gewesen sei und dass sie das Üben durch den Übebesuch bewusster gestalten würden.

Bereits in der Beobachtungsphase zu Beginn des Übebesuchs zeigte sich, dass der spontane Transfer von Inhalten aus dem Seminar in die Übesituation beim überwiegenden Teil der Studierenden festzustellen war. Dies erscheint nachvollziehbar, da die Inhalte im Seminar sich zu einem großen Teil auf grundlegende Fragen wie Aufrichtung im Stehen und Sitzen beziehen, die Teil der Vorbereitung auf das Singen und Spielen sind und obligater Teil des Instrumentalspiels oder Gesangs sind. Eine große Rolle spielten bei den Studierenden auch die Konzentration auf innere Vorgänge der Körperwahrnehmung und die Anwendung mentaler Techniken.

Als äußerst wirkungsvoll erwiesen sich die im Übebesuch erarbeiteten Empfehlungen. Ein Vergleich dieser Themen mit den Übungen, welche von Teilnehmenden einige Monate später genannt wurden, ergab eine vollständige Übereinstimmung. Dies bedeutet, dass sich alle Teilnehmenden aktiv aus eigenen Stücken an die Punkte aus dem Übebesuch erinnern konnten und angaben, diese beim Üben auch weiterhin einzubeziehen. Insgesamt ist deshalb zu vermuten, dass der Übebesuch stark zur Nachhaltigkeit des Seminars beigetragen hat.

Die Antworten auf die allgemeiner gestellte Frage nach der weiteren Anwendung der Seminarinhalte zeigten zwar Überlappungen mit den Antworten zum Übebesuch, besaßen jedoch inhaltlich ein eigenes Profil. An der Art der Angaben wurde deutlich, dass die Studierenden das Konzept des Seminars, sich ein persönliches Repertoire an Übungen unabhängig von bestimmten Körpermethoden zusammenzustellen, angenommen haben. Weit häufiger wurden nämlich einzelne Übungen als Körpermethoden genannt.

Die Angaben zur Verteilung von Übedauern und dem zeitlichen Anteil an Übungen aus dem Seminar ergab, dass die Übedauer im Laufe des Semesters abnahm. Dies scheint dem typischen Studienverlauf mit Prüfungen und Hochschulaufführungen zum Ende des Semesters geschuldet zu sein. Insgesamt bestätigen die Angaben jedoch, dass in der Woche zwischen den Seminarsitzungen Übungen aus dem Seminar zur Anwendung kamen. Wie eine differenzierte Analyse zeigt, variierten hier die Zeiten zwischen den Teilnehmenden erheblich – jedoch zeigen diejenigen, die instrumental oder vokal viel oder wenig üben, dies entsprechend über das ganze Semester hinweg.

Es handelt sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine qualitative Studie mit ergänzenden quantitativen Angaben. Das hier vorgestellte pädagogische Unterrichtskonzept mit seinen spezifischen Elementen konnte nach der Auswertung der vorliegenden Materialien positiv zum Transfer der Seminarinhalte in die Spielpraxis beitragen. Zur Beantwortung der Frage, ob die zusätzlich entwickelten Elemente (Lernportfolio, Wochenprotokoll, Übebesuch) unter Supervision einer zusätzlichen Dozentin hierzu entscheidend beigetragen haben, lassen sich die Beobachtungen der Dozent*innen des Seminars heranziehen, welche die Studierenden bereits mehr als sechs Semester unterrichten und das Unterrichtskonzept ohne und mit Integration der neuen Elemente aus der Lehrpraxis kennen. Alle Dozent*innen stimmten darin überein, dass die neu eingeführten Elemente das Engagement und Interesse der Studierenden sehr positiv verändert habe. Dies zeigte sich u.a. darin, dass die Studierenden bereits während der Unterrichtsstunden mental die Anwendung der praktischen Übungen außerhalb des Seminars vorwegnahmen und entsprechende Nachfragen stellten.

Aufgrund der aus Studierenden- und Lehrendenperspektive dargestellten positiven Erfahrung und Evaluation lässt sich das dargestellte Vorgehen für die pädagogische Praxis im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung empfehlen.

Dessen präventive Wirksamkeit müsste allerdings in einem Interventions- Kontrollgruppendesign insgesamt und hinsichtlich der Wirksamkeit einzelner Elemente in einer differenziellen Interventionsstudie überprüft werden. In einem nächsten Schritt müssten dabei die Auswirkungen des Seminars auf die Gesundheit der Studierenden erfasst und das Ausmaß und die Häufigkeit von Beschwerden als outcome-Kriterien untersucht werden.

Finanzierung

Die Autor*innen haben keine Finanzierung zu berichten.

Interessenkonflikte

Die Autor*innen erklären, dass keine konkurrierenden Interessen bestehen.

Danksagung

Die Autor*innen danken ihren Kollegen und Kolleginnen für die jahrelange gute Zusammenarbeit beim Unterrichten körperorientierter Ansätze für Musiker.

Originalitätserklärung

Hiermit bestätigen die Autor*innen, dass die eingereichte Arbeit noch nicht veröffentlicht wurde und dass sie nicht gleichzeitig von einer anderen Zeitschrift begutachtet wird.

Erklärung zur Datenverfügbarkeit

Die Autor*innen folgen bei der Veröffentlichung der zu einem Beitrag gehörenden Forschungsdaten den Leitlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs). Bei weiterführendem Interesse bitten wir um Kontaktaufnahme mit der korrspondierenden Autorin per e-mail.

Literatur

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Appendix

Katamnese-Fragebogen