Ohrwürmer im Interesse musikpsychologischer Forschung
Phänomen, Terminologie und Forschungsstand
Die Bezeichnung „Ohrwurm“ soll vom Operettenkomponist Paul Lincke geprägt worden sein (Krüger-Lorenzen, 2001, S. 474) und ist in die Alltagssprache eingegangen. Im musikpsychologischen Diskurs gibt es keine einheitliche Definition dieses Phänomens, vielmehr werden durch unterschiedliche Begriffe unterschiedliche Perspektiven betont. Als Ohrwurm ist in der Regel der Ausschnitt eines Musikstückes mit oder ohne Text bezeichnet, der wiederholend im Kopf erklingt (Halpern & Bartlett, 2011). Solche Vorstellungen können unwillkürlich auftreten und entziehen sich der bewussten Kontrolle z. B. über den konkreten Musikausschnitt, das Einsetzen und die Wiederholungsfrequenz. Nicht selten handelt es sich dabei um Melodien, die erst kürzlich gehört wurden (Hyman et al., 2013; Schlemmer & Hemming, 2018). Diese auditiven Imaginationen können auch von Singen, Summen, Pfeifen oder Mitklopfen des Rhythmus begleitet sein (Schlemmer & Hemming, 2018).
Neben dem Begriff des Ohrwurms wird der Begriff der unwillkürlichen musikalischen Imagination (involuntary musical imagery, INMI) sowohl als Synonym verwendet (Floridou et al., 2015; Williamson & Müllensiefen, 2012) wie auch als übergeordnete Kategorie verstanden (Williams, 2015). Während die beständige Wiederholung eines musikalischen Segments für einen Ohrwurm im engeren Sinne konstitutiv ist, so gilt dies im Allgemeinen nicht für INMI, da diese weder repetitiv noch aus bestehenden Werken entnommen sein müssen, wie z. B. musikalische Ideen oder Halluzinationen (Williams, 2015). Ohrwürmer können demgemäß als eine echte Teilmenge der INMI aufgefasst werden. Es ist anzunehmen, dass Ohrwürmer viel häufiger und verbreiteter auftreten als andere Formen von INMI, weswegen die Begriffe oft synonym verwendet werden. Zur Differenzierung wirksamer Einflussfaktoren unterscheiden Liikkanen und Jakubowski (2020) eine strukturelle Ebene (stimulus-level factors) und eine psychologische Dimension (participant-level factors), um die Beschaffenheit und musikalischen Eigenschaften eines bestimmten Ohrwurms sowie die individuellen Erlebensqualitäten und die zugehörigen mentalen Prozesse zu erfassen. Zur Erforschung des Phänomens werden qualitative Methoden wie Tagebuchstudien (Halpern & Bartlett, 2011; Jakubowski et al., 2015) und auch quantitative Befragungen (Beaman & Williams, 2010) oder Kombinationen davon (Williamson & Müllensiefen, 2012) eingesetzt. Auch liegt ein standardisierter Fragebogen zur Quantifizierung der Phänomenologie von INMI (Floridou et al., 2015) vor; neuropsychologische Ansätze ermitteln strukturelle Korrelate mittels bildgebender Verfahren (Farrugia et al., 2015).
Was das Auftreten von Ohrwürmern auslöst, ist jedoch noch nicht eindeutig geklärt. Es ist von verschiedenen Mechanismen auszugehen, wobei auch verwandte kognitive Prozesse wie „Mind-Wandering“ (Floridou & Müllensiefen, 2015) oder Zwangsgedanken, „intrusive thoughts“ (Hyman et al., 2013) diskutiert werden, die mit Ohrwurm-Erlebnissen korreliert sind. So hat das Ohrwurm-Phänomen an sich interessante Implikationen für die Gedächtnisforschung, da es sich um ein wiederholtes, unwillkürliches aber teilweise auch forciertes Erinnern auditiver Gedächtnisinhalte handelt, das keine offenkundige Funktion zu erfüllen scheint. Möglicherweise können Ohrwürmer die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten unterstützen, da experimentelle Befunde zeigen, dass die Genauigkeit der Erinnerung an bestimmte Musik und an Details aus damit verknüpften Filmausschnitten mit der Anzahl der INMI-Erlebnisse zwischen den Testzeitpunkten korreliert (Kubit & Janata, 2022). Parallelen zum Konzept der phonologischen Schleife (Baddeley & Hitch, 1974) drängen sich auf, jedoch ohne dass der Zusammenhang klar erfasst ist. Es könnte sich bei Ohrwürmern um ein Epiphänomen normaler Gedächtnisfunktionen handeln. Da jede Theorie des Gedächtnisses auch das Phänomen der INMI erklären müsste, wäre umgekehrt zu vermuten, dass die Ohrwurm-Forschung wesentliche Beiträge zur Gedächtnispsychologie liefern könnte. Diese Studie möchte dies unterstützen, indem sie zum einen den Zusammenhang von Ohrwürmern mit der Arbeitsgedächtniskapazität untersucht und zum anderen dazu Musikstudierende als Stichprobe heranzieht, die eine höhere aktive und passive Musikexposition haben als eine Kontrollgruppe von Nicht-Musikstudierenden.
Beschäftigung mit Musik und musikalische Erfahrenheit als Faktoren
Eine Beschäftigung mit Musik sowie musikalische Aktivitäten können das Auftreten von Ohrwürmern unterstützen (Bailes, 2007; Beaman & Williams, 2013; Beaty et al., 2013; Floridou et al., 2015; Hyman et al., 2013; Liikkanen, 2012). Neben dem Hören und Üben von Musik werden auch individuelle Gesangsfähigkeiten (Williamson & Müllensiefen, 2012) und vokale wie körperliche Involviertheit, d. h. tatsächliche wie imaginierte Bewegung (z. B. Fortführen der Melodie) und vokale Äußerung (z. B. Summen, Tapping; McCullough Campbell & Margulis, 2015) als Einflussfaktoren genannt. Unterschiede im Ohrwurm-Erleben zwischen Musiker:innen und Nicht-Musiker:innen werden auf die häufigere Exposition von Musik zurückgeführt (Bailes, 2007; Beaty et al., 2013): Musiker:innen erfahren häufiger instrumentale Musik (Liikkanen, 2012), aber weniger selbstausgedachte Musik als Ohrwurm (Beaty et al., 2013), erleben Ohrwürmer musikalisch detailreicher (Bailes, 2007; Hyman et al., 2013) und in längeren Segmenten als Nicht-Musiker:innen (Liikkanen, 2012; Moeck et al., 2018). Somit besteht Grund zu der Annahme, dass bei Musiker:innen Ohrwürmer anders verlaufen als bei Nicht-Musiker:innen. Dabei erscheint das Arbeitsgedächtnis für INMI-Prozesse von großer Bedeutung (Floridou et al., 2017; Geffen & Pitman, 2019).
INMI, Mind-Wandering, Arbeitsgedächtnisleistungen und Expertise
Hinsichtlich möglicher Zusammenhänge mit Arbeitsgedächtnisleistungen zeigen empirische Befunde, dass die Bearbeitung verbaler Aufgaben (Anagramme) im Vergleich zu visuell-räumlichen Aufgaben (Sudoku) zu einer weniger erfolgreichen Induktion von Ohrwürmern führt (Hyman et al., 2013), dass eine artikulatorische Unterdrückung (durch Kaugummikauen) seltener als andere motorische Aktivitäten (Fingertippen) mit einem Ohrwurm-Erlebnis verbunden ist (Beaman et al., 2015) und dass eine Ablenkung durch verbale Aufgaben wie Lesen, Worträtsel und Konversation als wirksam zur Überwindung unerwünschter Ohrwürmer empfunden wird (Williamson & Jilka, 2014). Die Verarbeitung verbaler und musikalischer Inhalte im Kurzzeitgedächtnis verläuft grundsätzlich ähnlich und ist gebunden an dessen beschränkte Kapazität (Williamson, Baddeley, & Hitch, 2010). So können kürzere Wörter in der Regel besser memoriert werden als lange (Baddeley, 2010; Lange, 2005), und schnelleres Tempo und kleinere Intervalle steigern die Eingängigkeit musikalischer Ohrwürmer (Jakubowski et al., 2017; Williamson & Müllensiefen, 2012).
Zum Zusammenhang von Ohrwurm-Erleben und Arbeitsgedächtnis werden zwei Argumentationslinien vertreten. Zum einen können Ohrwürmer als Form intrusiver Gedanken gesehen werden (Hyman et al., 2013), d. h. als ein durch einen Reiz ausgelöstes unkontrollierbares Erinnern. So berichten Personen mit hoher Tendenz zu Zwangsstörungen (z. B. obsessives Händewaschen, Unentschlossenheit, Intrusion) ein häufigeres Auftreten von Ohrwürmern (Floridou et al., 2015; Müllensiefen, Fry, et al., 2014; Negishi & Sekiguchi, 2020). Auch zeigten Personen mit einer höheren Kapazität des Arbeitsgedächtnisses eine geringere Anzahl von Intrusionen in einer Unterdrückungsaufgabe (Brewin & Smart, 2005) und waren in der Lage, auch autobiographische Angsterlebnisse besser zu regulieren als Vergleichsgruppen (Geraerts et al., 2007). Zum anderen werden Ohrwürmer als Form frei schweifender Gedanken betrachtet (Floridou & Müllensiefen, 2015), die in entspannten Zuständen mit unterdurchschnittlicher kognitiver Auslastung vermehrt auftreten (Schlemmer & Hemming, 2018, S. 599). Zur Rolle des Arbeitsgedächtnisses in Prozessen dieses Mind-Wanderings finden sich zwei Ansätze: Die Hypothese des Kontrollversagens besagt, dass die Ausübung von Tätigkeiten durch Aufmerksamkeitslücken gestört wird, hingegen besagt die Hypothese der globalen Verfügbarkeit, dass ein Überschuss an exekutiven Ressourcen ein Umherschweifen von Gedanken erst ermöglicht; für beide Hypothesen finden sich empirische Belege (Marcusson-Clavertz et al., 2016). Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses scheint in Zusammenhang mit der Bewusstheit über das eigene gedankliche Umherschweifen wie auch mit der Konzentration in Phasen des Mind-Wanderings zu stehen. So sind sich Personen mit einer höheren Arbeitsgedächtniskapazität ihres Mind-Wanderings öfter bewusst; dies lässt jedoch keine Aussage darüber zu, ob diese Personen auch tatsächlich häufiger Mind-Wandering erleben (Su, 2015). Auch scheint das Arbeitsgedächtnis eine regulative Funktion auszuüben: Personen mit hoher Arbeitsgedächtniskapazität tendieren dazu, unfreiwilliges wie auch freiwilliges Mind-Wandering strikter begrenzen zu können (Soemer & Schiefele, 2020). In der Ausübung von Tätigkeiten zeigten sich Personen mit einer höheren Kapazität des Arbeitsgedächtnisses eher fokussiert, während bei Personen mit geringer Kapazität des Arbeitsgedächtnisses das Umherschweifen der Gedanken zunahm, je anspruchsvoller die Tätigkeit war (Kane et al., 2007). Die individuelle Anpassung an situative Anforderungen scheint mit der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses verbunden: Personen mit hoher Kapazität konnten aufgabenbezogene und nicht-aufgabenbezogen Gedanken während einer Tätigkeit besser koordinieren und auch bessere Resultate erzielen (Rummel & Boywitt, 2014). In Bezug auf das Ohrwurm-Erleben erscheint die kognitive Belastung durch die empfundene Aufgabenschwierigkeit als ein wichtiger Faktor. So werden häufiger Ohrwürmer beschrieben, wenn Personen sich schläfrig oder gelangweilt fühlen, allein sind, eine geringe Wachsamkeit aufweisen oder einer Tätigkeit mit geringer kognitiver Anforderung nachgehen (Floridou & Müllensiefen, 2015; Williamson et al., 2012). Allerdings sind Ohrwürmer experimentell auch bei der Bearbeitung von Aufgaben nachgewiesen, die eine hohe Konzentration erfordern (z. B. Sudoku) — wobei Ohrwürmer bei kognitiver Überforderung häufiger beobachtet wurden als bei Unterforderung (Hyman et al., 2013). Demgegenüber stehen Befunde aus experimentellen Studien, die Bedingungen kognitiver Belastung kontrolliert und eine kontinuierlich hohe Aufmerksamkeit bei der jeweiligen Aufgabenlösung verlangt haben: hier zeigt sich eine lineare Beziehung zwischen kognitiver Belastung und der Auftretenshäufigkeit sowie der Dauer von Ohrwurm-Episoden (Floridou et al., 2017; Geffen & Pitman, 2019). Des Weiteren zeigen Befunde, dass Musiker:innen in Arbeitsgedächtnistests bei verbalen Aufgaben (Chan et al., 1998; Franklin et al., 2008; Hansen et al., 2013; Talamini et al., 2016; Tierney et al., 2008) wie auch vereinzelt in visuell-räumlichen Aufgaben (Brochard et al., 2004; Gruhn et al., 2003) besser abschneiden als Nicht-Musiker:innen; allerdings gibt es auch Studien, die keine besseren Leistungen in visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnistests bei Musiker:innen feststellen (Brandler & Rammsayer, 2003; Helmbold et al., 2005). In verbalen und musikalischen Aufgabenstellungen erzielen Musiker:innen jedoch grundsätzlich bessere Leistungen, was die Annahme eines Zusammenhangs von musikalischer Ausbildung und Arbeitsgedächtniskapazität unterstützt (Fennell et al., 2021; Yurgil et al., 2020). Jedoch ist bislang noch nicht hinreichend geklärt, ob das eigene aktive Musizieren oder ein aktiver Umgang mit Musik das Auftreten von Ohrwürmern stärker beeinflusst (Floridou et al., 2015). Dennoch kann vermutet werden, dass Musikstudierende aufgrund ihrer Studieninhalte grundsätzlich in der Lage sein sollten, sich in besonderer Weise auf Musik zu fokussieren, diese im Arbeitsgedächtnis zu aktualisieren und als musikalische Imagination zu erleben.
Musikstudierende im Fokus der Ohrwurm-Forschung
Musikstudierende sind als spezifische Gruppe bislang nur sehr selten explizit thematisiert. Bailes (2007) hat die Prävalenz und Arten musikalischer Imagination bei Musikstudierenden mittels der Experience-Sampling-Methode (N = 11) beschrieben. Hier wird deutlich, dass imaginierte Musik eine sehr häufige Form musikalischer Erfahrungen von Musikstudierenden ist, wobei trotz individueller Unterschiede vor allem Melodie und Liedtexte als eindrücklichste Komponenten erlebt werden, und dass das Hören von Musik (45,8%) sowie das Vorbereiten und Einüben eines Stückes für eine Aufführung (19,6%) die häufigsten Gründe für musikalische Imaginationen sind (Bailes, 2007). Beaty et al. (2013) verglichen in einer Teilstudie Musikstudierende (n = 26) und Nicht-Musikstudierende (n = 78) und fanden, dass Musikstudierende vergleichsweise mehr Musik hören und signifikant häufiger musikalische Imaginationen erleben, aber auch, dass sie weniger oft eigene musikalische Vorstellungen im Sinne innerer Kompositionen berichten als Nicht-Musikstudierende. McCullough Campbell und Margulis (2015) stellten als Teilergebnis ihrer Studie keinen signifikanten Unterschied in der Auftretenshäufigkeit von Ohrwürmern bei Musikstudierenden (n = 12) zu Nicht-Musikstudierenden (n = 108) fest, allerdings mit stark unbalancierten Gruppengrößen. Cotter und Silvia (2017) prüften in einer Methodenstudie auch, wie sich die Einschätzungen von Musikstudierenden (n = 22) und Nicht-Musikstudierenden (n = 110) hinsichtlich zentraler Kategorien unterscheiden, die mittels Fragebogen und Experience-Sampling-Methode erhoben wurden. Dabei zeigte sich, dass Musikstudierende gegenüber Nicht-Musikstudierenden öfters musikalische Imaginationen und länger andauernde Ohrwurm-Episoden sowie längere musikalische Ausschnitte als Ohrwurm erleben und sich häufiger zur imaginierten Musik bewegen. In einer nachfolgenden Experience Sampling-Studie zur bewussten Initiierung und Manipulation innerer musikalischer Vorstellungen durch u. a. Temposteigerung und Geschlechtswechsel der Gesangsstimme zeigte sich, dass Musikstudierende (n = 29) besser in der Lage waren, derartige Veränderungen zu kontrollieren als Nicht-Musikstudierende (n = 29; Cotter & Silvia, 2020).
Grundsätzlich zeigen diese Studien Gruppenunterschiede, die als Folge der Spezialisierung von Musikstudierenden zu verstehen sind. Allerdings wurden diese überwiegend als Nebenbefunde aus teils stark unausgewogenen Teilstichproben gewonnen. In der vorliegenden Studie werden sowohl das Studienfach wie auch musikalische Erfahrenheit (Gold-MSI) erhoben, sodass musikalische Aktivitäten und Qualifikationen differenziert werden können. Das Konstrukt musikalischer Erfahrenheit basiert auf einem breiten Verständnis musikalischer Aktivitäten und Interessen; demgegenüber steht ein durch musikalisches Training und Spezialisierung geprägter professionalisierter Expertiseerwerb im Musikstudium. Die beiden fokussierten Gruppen, Musikstudierende und Nicht-Musikstudierende, sind prinzipiell vergleichbar hinsichtlich Bildungsniveaus und Lebenssituation, sollten sich in ihrer musikbezogenen Qualifikation und Kompetenz aber klar unterscheiden. So erhalten Musikstudierende eine gezielte Förderung in jenen Fähigkeitsbereichen, die in bisheriger Forschung als wesentliche Faktoren für musikalische Imagination und auch für das Erleben von Ohrwürmern identifiziert wurden (eigenes Musizieren, Chor-/Singen, Gehörbildung, musikalische Analyse, körperlich-koordinatorische Fertigkeiten…). Aufgrund dieser Fähigkeiten sollten sich die Leistungen von Musikstudierenden in den Bereichen des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses, der Tonhöhenvorstellung (als Teil des klanglich-musikalischen Arbeitsgedächtnisses) und der musikalischen Expertise bzw. Erfahrenheit von denen Nicht-Musikstudierender unterscheiden und als Einflussfaktoren auf INMI möglicherweise auch in Verbindung zum Ohrwurm-Erleben stehen können.
Hypothesen
Mit Blick auf den dargestellten Forschungsstand und die Zielsetzung unserer Studie, können nachfolgende Hypothesen über vermutete Zusammenhänge des Ohrwurm-Erlebens mit musikalischer Expertise formuliert werden. Aufgrund ihres Studiums ist zu erwarten, dass Musikstudierende gegenüber Nicht-Musikstudierenden deutlich mehr aktiven und passiven Umgang mit Musik haben, was die Auslösewahrscheinlichkeit von Ohrwürmern erhöht und somit häufigere Ohrwurm-Erlebnisse bedingen sollte. Auch sollte ein kontinuierliches musikalisches Training mit einer höheren Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses einhergehen, was aufgrund der größeren Kapazität zum Erleben längerer musikalischer Segmente als Ohrwürmer bei Musikstudierenden führen sollte. Wegen der zu erwartenden höheren exekutiven Kontrolle sollte zudem die zeitliche Dauer der von Musikstudierenden erlebten Ohrwurm-Episoden kürzer sein — allerdings nur, wenn die erlebten Ohrwürmer tendenziell unerwünscht sind und darum kontrolliert bzw. überwunden werden sollen. Entsprechend sollte bei einem Wunsch nach Überwindung des Ohrwurms die Häufigkeit des Auftretens von Ohrwürmern geringer sein. Ob Musikstudierende Ohrwürmer eher als störend und unerwünscht erleben oder nicht, ist nicht bekannt. Aufgrund ihrer starken Affinität zu Musik wäre aber eine eher positive Einstellung zu erwarten, sodass die Häufigkeit des Ohrwurm-Erlebens bei Musikstudierenden größer sein sollte als bei Nicht-Musikstudierenden. Für die zeitliche Dauer von Ohrwurm-Episoden scheinen aufgrund des divergierenden Forschungsstandes eher situative Faktoren entscheidend.
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Hypothese 1: Musikstudierende erleben häufiger Ohrwürmer als Nicht-Musikstudierende, falls sie diese nicht als störend empfinden.
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Hypothese 2: Musikstudierende erleben kürzer andauernde Ohrwurm-Episoden als Nicht-Musikstudierende, falls sie diese als störend empfinden.
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Hypothese 3: Musikstudierende erleben längere Ohrwurm-Ausschnitte als Nicht-Musikstudierende.
Darüber hinaus soll phänomenologisch untersucht werden, ob und wie sich das Ohrwurm-Erleben von Musikstudierenden und Nicht-Musikstudierenden unterscheidet.
Methode
Design und Methoden
Unsere Studie folgt im Design einem quantitativen Paradigma mit einer quasi-experimentellen Gruppenstudie. Die Daten wurden über einen Zeitraum von vier Wochen in einer Onlinebefragung auf dem Online-Testing-Server der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie (DOTS, https://testing.musikpsychologie.de/dots_home/) erhoben. Die Stichprobe wurde mittels Convenience Sampling rekrutiert, indem der Link zur Onlinebefragung über Mailinglisten und soziale Kontakte versandt wurde; die Befragung konnte wahlweise in deutscher oder englischer Sprache absolviert werden. Die Aufklärung und Information der Teilnehmer:innen folgte etablierten ethischen Richtlinien empirischer Forschung (Universität Hamburg, Fakultät für Geisteswissenschaften, 2017). Auf der Startseite wurden die Teilnehmer:innen über das Ziel der Studie informiert und darauf hingewiesen, dass die Teilnahme freiwillig ist und jederzeit ohne Angabe von Gründen beendet werden kann. Die Befragung wurde erst nach Zustimmung zur Nutzung und Speicherung der anonymisierten Daten gestartet, ein Lautstärke-Check sollte dann eine individuell optimale Wiedergabe der Hörbeispiele gewährleisten; danach wurden demografische Daten abgefragt. Anschließend waren verschiedene Selbstauskunftsfragebögen auszufüllen und Tests zu absolvieren, die nachfolgend in der Reihenfolge ihres Einsatzes erläutert werden; die gesamte Befragung dauerte etwa 20 Minuten. Alle hier verwendeten Fragebögen und Testverfahren sind über den DOTS-Server in deutscher und englischer Sprache verfügbar.
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Soziodemographische Angaben zu Geschlecht, Alter und Studienfach zur Strukturierung der Stichprobe hinsichtlich einer Gruppenzugehörigkeit (Musik- vs. Nicht-Musikstudierende).
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Fragebogen zum Ohrwurm-Erleben (Earworm Experiences, EWE): Zur Ermittlung subjektiver Erfahrungen beim Ohrwurm-Erleben und als Ergänzung der über die Involuntary Musical Imagery Scale (IMIS; Floridou et al., 2015) erhobenen Daten wurde ein Fragebogen zum Ohrwurm-Erleben (Earworm Experience Questionnaire, EWE) erstellt, der an existierende Fragebögen (Beaman & Williams, 2010; Halpern & Bartlett, 2011; Jakubowski et al., 2015; Liikkanen, 2012) angelehnt ist. Der EWE fragt mit 14 Items nach Merkmalen einer konkreten kürzlich erlebten Ohrwurm-Episode, nach allgemeinen Erlebensqualitäten sowie nach spezifischen Fähigkeiten und allgemeinen Coping-Strategien. Zunächst werden die Personen gebeten, sich eines vor kurzer Zeit als Ohrwurm erlebten Musikstückes zu erinnern und dessen Objektmerkmale (Titel und/oder Interpret:innen, Hörhäufigkeit, Liedtext) sowie das subjektive Gefallen des Stückes vor und nach dem Ohrwurm-Erlebnis (fünfstufige Likert-Skala) anzugeben sowie mögliche Gründe für das Auftreten dieses Ohrwurms aus vorgegebenen Kategorien auszuwählen (Mehrfachantworten möglich). Zur Beschreibung der formalen Position innerhalb eines Stückes (Intro, Strophe, Refrain, Hauptthema, etc.) sowie der konkreten musikalischen Gestalt (vokale / instrumentale Melodie, Riff, Rhythmus, mehrstimmige Struktur, etc.) des Ohrwurms sind Kategorien zur einfachen Auswahl angeboten, ebenso wie zur phänomenologischen Charakterisierung. Auch sollen die individuellen Fähigkeiten zur Reproduktion des Ohrwurms durch z. B. singen oder pfeifen („angemessen, teilweise angemessen, nicht angemessen, gar nicht“) eingeschätzt werden. Erfragt werden zudem das Genre, aus dem die erlebten Ohrwürmer im Allgemeinen entstammen (Mehrfachnennungen möglich) sowie die Neuheit bzw. Vertrautheit der erlebten Ohrwürmer und deren Komplexität. Abschließend werden noch individuelle Strategien zur Überwindung eines Ohrwurms erfragt (Mehrfachnennungen möglich).
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Qualitäten unfreiwilliger musikalischer Imagination (IMIS, Floridou et al., 2015): Der IMIS ist ein standardisiertes Selbstauskunftsinventar zum Erfassen individueller Unterschiede im Erleben von Ohrwürmern. Mit drei Items werden die Auftretenshäufigkeit, die Länge des als Ohrwurm wiederkehrenden musikalischen Ausschnitts sowie die Dauer einer Ohrwurm-Episode ermittelt; das Ohrwurm-Erleben wird mit 15 Items erhoben, die vier Faktoren abbilden: „Negative Valenz“ (subjektive Bewertung von INMI-Erfahrungen), „Bewegung“ (körperliche Reaktionen), „Persönliche Reflektion“ (Bedeutung persönlicher Probleme im Zusammenhang mit INMI-Erfahrungen) und „Hilfe“ (nützliche und konstruktive Aspekte der INMI-Erfahrung). Deren interne Konsistenz umfasst Werte von Cronbach’s α = ,76 bis ,91, die Test-Retest-Reliabilität erstreckt sich von Cronbach’s α = ,65 bis ,79; zudem korrelieren die vier Faktoren mit Mind-Wandering (r von ,12 bis ,28) und kognitiver Intrusion (r von ,07 bis ,22) sowie musikalischer Erfahrenheit (r von ,12 bis ,34) (Floridou et al., 2015). Die Reliabilitätswerte in der leicht modifizierten chinesischen Version (Jue et al., 2022) sind ähnlich gut (von Cronbach’s α = ,66 bis ,90; Test-Retest-Reliabilität von Cronbach’s α = ,55 bis ,72). Zudem zeigt der IMIS keine systematische Verzerrung hinsichtlich musikalischer Erfahrenheit in Bezug auf zentrale Faktoren wie Dauer einer Ohrwurm-Episode und Länge eines Ohrwurms (Cotter & Silvia, 2017). Die verwendete eigene deutschsprachige Übersetzung des IMIS folgt gängigen Richtlinien (International Test Commission, 2017) und bezieht eine vorliegende Fassung mit ein (Schlemmer & Hemming, 2018, S. 600–601). Kriterien für die Übersetzung waren Kürze und Prägnanz der Items sowie Verständlichkeit, Genauigkeit und die Begrenzung möglicher Interpretationen (Porst, 2019). Die IMIS-Skala wurde in unserer Befragung um eine Frage nach dem erfolgreichen Überwinden von Ohrwürmern ergänzt: „Ich kann erfolgreich meine Ohrwürmer loswerden“.
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Musikalische Erfahrenheit (Goldsmiths Musical Sophistication Index, Gold-MSI, Müllensiefen, Gingras, et al., 2014; Schaal et al., 2014): Der Gold-MSI ist ein standardisiertes Inventar zur Ermittlung relevanter Erfahrungen und Aktivitäten individuellen musikalischen Verhaltens, das mittlerweile in zahlreichen Übersetzungen vorliegt. Der Selbstauskunftsfragenbogen umfasst 38 Items, die auf fünf Faktoren (Aktiver Umgang mit Musik, Wahrnehmungsfähigkeit, Musikalische Ausbildung, Emotionen, Gesangsfähigkeit) und einen die 18 am höchsten ladenden Items bündelnden übergeordneten Faktor (Allgemeine musikalische Erfahrenheit) mit hoher interner Konsistenz (von Cronbach’s α = ,79 bis ,93) verteilt sind und mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse bestätigt wurden (RMSEA = ,060; SRMR = ,064; CFI = ,884) (Müllensiefen, Gingras, et al., 2014). Diese Struktur ist mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse auch in der deutschsprachigen Version nachweisbar (RMSEA = ,060; SRMR = ,066; CFI = ,861), wobei die Skalen eine hohe interne Konsistenz (von Cronbach’s α = ,72 bis ,91) aufweisen (Schaal et al., 2014). In der vorliegenden Studie wurde die Skala „Allgemeine musikalische Erfahrenheit“ (Cronbach’s α = ,93 bzw. ,91) in englischer Originalfassung (Müllensiefen, Gingras, et al., 2014) und in deutscher Übersetzung (Schaal et al., 2014) verwendet, um ein Maß musikalischer Erfahrenheit zu ermitteln, das nicht allein auf musikalischer Ausbildung und Musizierfähigkeiten beruht.
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Räumlich-visuelles Arbeitsgedächtnis (Jack & Jill Adaptive Working Memory Task, JaJ, Tsigeman et al., 2022): Der Jack & Jill Adaptive Working Memory Task ist ein adaptiver Test zur Messung von Leistungen des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses mittels Dual-Task-Paradigma. Die Position farbiger Objekte ändert sich beständig und muss mit jedem neuen Bild vergleichend erinnert werden. Die Gestaltung der Aufgabenstellung ist mittels Item Response Modelling konzipiert. Der JaJ zeigt hinreichende interne Konsistenz (marginale Reliabilitäten entsprechen Cronbach’s α mit Werten von ,78 bis ,83) und Validität über signifikante Korrelationen mit anderen Testverfahren u. a. zu Arbeitsgedächtnis (von r = ,28 bis ,44), räumlicher Vorstellung (von r = ,51 bis ,54) und nonverbaler Intelligenz (r = ,57) (Tsigeman et al., 2022). Verwendet wurden die von den Autor:innen erstellten englisch- und deutschsprachigen Fassungen, die als „Jack and Jill“- bzw. „Johann und Johanna“-Test über den DOTS-Server verfügbar sind.
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Vorstellungskraft für Tonhöhen (Adaptive Pitch Imagery Arrow Task, aPIAT, Gelding et al., 2021): Der aPIAT ist ein standardisiertes und dynamisches Messinstrument zur Ermittlung auditiver mentaler Vorstellungen mittels adaptiver Item-Auswahl. Die Güte des Testverfahrens steigt mit der Länge der Testung (Anzahl der Items) und zeigt eine Test-Retest-Reliabilität von r = ,65 für 25 Items (Gelding et al., 2021). Im aPIAT erzielte Leistungen weisen moderate bis starke Korrelationen auf u. a. zur Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (von r = ,42 bis ,57) und zu Dimensionen musikalischer Erfahrenheit (Gold-MSI-Skalen: Wahrnehmungsfähigkeit, r = ,33, Emotionen, r = ,31, Musikalische Ausbildung, r = ,26; Aktiver Umgang mit Musik, r = ,15, Gesangsfähigkeit, r = ,13, Allgemeine musikalische Erfahrenheit, r = ,13, jeweils nicht signifikant); als wichtige Prädiktoren zeigen sich u. a. die Fähigkeit zur mentalen Erhaltung und Manipulation von Tonhöhen (Gelding et al., 2021). Verwendet wurden die von den Test-Autor:innen erstellten englisch- und deutschsprachigen Fassungen, die über den DOTS-Server verfügbar sind.
Stichprobe
Auf Grundlage der berichteten Forschungslage wurden mögliche Gruppenunterschiede mit mittleren bis starken Effekten vermutet. Für den Gruppenvergleich wäre für d = 0,5 mit Teststärke (1 − β) = ,8, α = ,05 und einseitiger Testung der Hypothesen 1 bis 3 eine Gruppengröße von n = 51 erforderlich. Insgesamt 213 gültige Fälle, die Erfahrungen mit Ohrwürmern bestätigten, bildeten eine Stichprobe hinsichtlich der Zielsetzung dieser Studie. Davon ausgeschlossen wurden unvollständig ausgefüllte Fragebögen (n = 20) sowie Fälle ohne Studierenden-Status (n = 69). Der resultierende Datensatz umfasst 124 Personen (63,6% weiblich) im Alter zwischen 18 und 51 Jahren (M = 23,9; SD = 3,9) und setzt sich aus zwei Gruppen zusammen:
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Studierende mit Hauptfach Musik (Musikstudierende): n = 74 (68,9% weiblich), im Alter von 18 bis 37 Jahren (M = 23,6; SD = 3,39);
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Studierende anderer Fächer (Nicht-Musikstudierende): n = 50 (58% weiblich), im Alter von 19 bis 51 Jahren (M = 24,2; SD = 4,64).
Die Gesamtgröße des Samples erreicht somit genügend Teststärke, um Korrelationen von ,25 und höher zu identifizieren.
Ergebnisse
Beschreibung von Erfahrungen des Ohrwurm-Erlebens (EWE)
Sowohl bei Musikstudierenden wie auch bei Nicht-Musikstudierenden treten Ohrwürmer überwiegend aus dem Genre Pop (MS / NMS = 19,6% / 24,0%) auf (Abbildung 1). Allerdings unterscheiden sie sich signifikant hinsichtlich der Genres Klassik (MS / NMS = 17,7% / 7,8%, χ2(1) = 16,0, p < ,001) und Jazz (MS / NMS = 11,3% / 3,9%, χ2(1) = 8,75, p = ,003).
Abbildung 1
Musikstudierende berichten im Vergleich zu Nicht-Musikstudierenden weniger textgebundene (70,2% / 90,0%), χ2(1) = 5,71; p = ,02, und andere Formen von Ohrwürmern, χ2(5) = 14,9; p = ,01, vor allem häufiger instrumentale Ohrwürmer (23,0% / 12,0%, post-hoc p < ,001, unkorrigiert) und häufiger polyphone Strukturen (21,6% / 6,0%, post-hoc p = ,002, unkorrigiert). Auch hinsichtlich des Ursprungs eines Ohrwurms unterscheiden sich die Gruppen, χ2(6) = 22,1, p = ,001: Nicht-Musikstudierende bezeichneten am häufigsten den Refrain eines Songs als Ursprung des erlebten Ohrwurms (24,0% / 62,0%, post-hoc p < ,001, unkorrigiert), Musikstudierende das Hauptthema (32,4% / 14,0%, post-hoc p < ,001, unkorrigiert). Auch bezüglich der innerlich erlebten Form, χ2(2) = 12,9; p = ,002, und der Reproduktionstreue, χ2(3) = 12,4; p =, 007, gibt es Unterschiede, nicht aber im Repertoire, χ2(3) = 2,0; p = ,37. Musikstudierende berichten vergleichsweise häufiger einen Ohrwurm klanglich „wie das Original“ zu erleben (56,8% / 44,0%, post-hoc p < ,001, unkorrigiert); Nicht-Musikstudierende hingegen berichten deutlich häufiger, der erlebte Ohrwurm entspreche klanglich nicht dem Original, sondern klinge wie „innerlich selbst gesungen“ (20,0% / 1,4%). Musikstudierende sehen sich deutlich besser in der Lage, den Ohrwurm durch Singen, Klatschen o. ä. angemessen reproduzieren zu können (62,1% / 38,0%, post-hoc p = ,008, unkorrigiert).
Die von Musikstudierenden und Nicht-Musikstudierenden am häufigsten genannten Gründe für das Auftreten eines Ohrwurms sind ein kürzlich vorausgegangenes Hörerlebnis (31,9% / 38,6%) sowie eine Auslösung durch Etwas aus der unmittelbaren Umgebung (21,7% / 26,1%) oder durch etwas Vergangenes (10,8% / 14,8%); eine Besonderheit bei Musikstudierenden ist, dass die als Ohrwurm erlebte Musik deutlich häufiger auch „selber kürzlich gespielt“ wurde (20,4% / 8,0%), χ2(1) = 10,5; p = ,001 (Abbildung 2).
Abbildung 2
In Bezug auf Strategien, einen Ohrwurm zu überwinden, zeigten sich keine signifikanten Unterschiede in beiden Gruppen. Die am häufigsten geäußerte Strategie zur Bewältigung eines Ohrwurms ist das Anhören einer anderen Musik (19,5% / 21,4%). Während Nicht-Musikstudierende das betreffende Musikstück öfter anhören (16,2% / 19,4%), singen oder spielen Musikstudierende dies vergleichsweise häufiger (16,8% / 11,7%), χ2(1) = 3,46; p = ,063. Auch das Ablenken durch andere Dinge oder Tätigkeiten wird in beiden Gruppen nahezu gleich oft angewandt (17,3% / 17,5%; Abbildung 3).
Das Gefallensurteil über das Musikstück, aus dem der erlebte Ohrwurm entstammt, scheint offenbar nicht vom Ohrwurm-Erleben beeinträchtigt: die Einschätzung des Stückes vor und nach dem Ohrwurm-Erleben unterscheidet sich nach einem Wilcoxon-Test nicht signifikant, V(123) = 285, p = ,45. Insgesamt ist festzuhalten, dass die gefundenen Unterschiede im Ohrwurm-Erleben auf Unterschiede in der Expertisierung zurückzuführen sind, wobei Ohrwürmer vor allem durch die gesteigerte aktive und passive Beschäftigung mit Musik ausgelöst werden. So lassen sich die hohen Anteile von Ohrwürmern aus Klassik und Jazz bei Musikstudierenden dadurch erklären, dass dies spezifische Studieninhalte der musikalischen Ausbildung sind.
Abbildung 3
Prüfung von Gruppenunterschieden
Musikstudierende berichten signifikant häufiger, Ohrwürmer zu erleben als Nicht-Musikstudierende, t(122) = 3,19; p = ,002; d = 0,58. Hinsichtlich der Dauer einer Ohrwurm-Episode sowie auch der Länge musikalischer Segmente sind keine signifikanten Gruppenunterschiede festzustellen; Dauer: t(122) = 0,5; p = ,562; d = 0,11; Länge: t(122) = 0,56; p = ,58; d = 0,10 (Tabelle 1).
Tabelle 1
Variable | Gruppe | M | SD | Bereich | t(122) | p | d |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Häufigkeita | MS | 4,64 | 0,92 | [2,00; 6,00] | 3,19 | ,002 | 0,58 |
NMS | 4,06 | 1,08 | [2,00; 6,00] | ||||
Längeb | MS | 2,80 | 0,95 | [1,00; 5,00] | 0,56 | ,577 | 0,10 |
NMS | 2,70 | 0,95 | [1,00; 5,00] | ||||
Dauerc | MS | 2,81 | 1,11 | [1,00; 5,00] | 0,58 | ,562 | 0,11 |
NMS | 2,68 | 1,39 | [1,00; 5,00] | ||||
Überwindend | MS | 2,78 | 0,83 | [1,00; 5,00] | -1,37 | ,173 | -0,25 |
NMS | 3,00 | 0,90 | [2,00; 5,00] | ||||
Valenze | MS | 2,48 | 0,61 | [1,43; 4,43] | -0,26 | ,79 | -0,05 |
NMS | 2,51 | 0,63 | [1,00; 4,29] | ||||
Bewegunge | MS | 3,23 | 0,79 | [1,00; 4,67] | 2,42 | ,017 | 0,44 |
NMS | 2,87 | 0,83 | [1,33; 4,67] | ||||
Reflektione | MS | 1,72 | 0,61 | [1,00; 4,00] | 1,25 | ,215 | 0,23 |
NMS | 1,59 | 0,56 | [1,00; 3,00] | ||||
Hilfee | MS | 2,46 | 0,69 | [1,00; 5,00] | 1,32 | ,191 | 0,24 |
NMS | 2,29 | 0,73 | [1,00; 5,00] | ||||
GMSf | MS | 5,74 | 0,48 | [4,11; 6,5] | 11,14 | < ,001 | 2,04 |
NMS | 4,10 | 1,13 | [1,67; 6,44] | ||||
JaJg | MS | 1,32 | 1,34 | [0,37; 6,44] | 1,76 | ,08 | 0,32 |
NMS | 1,11 | 0,67 | [-1,8; 2.83] | ||||
aPIATg | MS | 2,47 | 0,62 | [-1,16; 4,00] | 7,38 | < ,001 | 1,35 |
NMS | 0,64 | 1,39 | [-2,48; 4,00] |
Anmerkung. MS = Musikstudierende (n = 74); NMS = Nicht-Musikstudierende (n = 50); Effektstärke d = Cohen’s d. Signifikante Werte sind fettgedruckt.
a Sechsstufige Intensitätsskala mit nominalen Kategorien zur Erfassung der Auftretenshäufigkeit von 1 (niemals) bis 6 (nahezu immer). b Fünfstufige Intensitätsskala mit nominalen Kategorien zur Erfassung der zeitlichen Dauer von 1 (< 5 sec) bis 5 (> 60 sec). c Fünfstufige Intensitätsskala mit nominalen Kategorien zur Erfassung der zeitlichen Dauer von 1 (< 10 min) bis 5 (> 180 min). d Fünfstufige Intensitätsskala von 1 (niemals) bis 5 (immer). e Die Items aller IMIS-Faktoren sind auf einer fünfstufigen Intensitätsskala erhoben (1 = min, 5 = max). f GMS (General Musical Sophistication) ist abgebildet auf einer siebenstufigen Skala (1 = min, 7 = max). g JaJ (Jack and Jill Adaptive Working Memory Test) und aPIAT (adaptive Pitch Imagery Arrow Test) abgebildet auf einer normalisierten Skala (von −4 bis +4). Da die geprüften Skalen eigenständig sind, wurden Mittelwertsunterschiede mittels t-Test für unabhängige Stichproben getestet.
Daneben zeigen sich kaum Gruppenunterschiede hinsichtlich der IMIS-Faktoren. Musikstudierende erleben einen Ohrwurm nicht signifikant störender als Nicht-Musikstudierende, t(122) = –0,26; p = ,794; d = –0,05, berichten ähnliche persönliche Reflektionen im Zusammenhang mit Ohrwürmern, t(122) = 1,25; p = ,215; d = 0,23, und erleben einen Ohrwurm ähnlich oft als hilfreich oder handlungsunterstützend, t(122) = 1,32; p = ,191; d = 0,24. Auch bei der Einschätzung, einen Ohrwurm überwinden zu können, zeigt sich kein signifikanter Effekt, t(122) = –1,37; p = ,173; d = –0,25. Allerdings bewegen sich Musikstudierende signifikant häufiger zum erlebten Ohrwurm, t(122) = 2,42; p = ,017; d = 0,44 (Tabelle 1, Abbildung 4).
Abbildung 4
Auch die Gefallensurteile vor und nach dem Ohrwurm-Erlebnis weisen innerhalb der Gruppen keine wesentlichen Veränderungen auf: das Musikstück, aus dem der Ohrwurm entstammt wurde jeweils positiv bewertet (MS: Mvor = 4,18; SDvor = 0,88; Mnach = 4,18; SDnach = 0,88; NMS: Mvor = 4,0; SDvor = 0,79, Mnach = 4,0; SDnach = 0,93); auch im Gruppenvergleich zeigen sich keine Unterschiede in der Bewertung des betreffenden Stückes; vorher: t(122) = 0,489; p = ,626; d = 0,09; nachher: t(122) = –0,148; p = ,833; d = –0,027. Die Fähigkeit, einen Ohrwurm musikalisch angemessen reproduzieren zu können, erscheint aber gebunden an musikalische Fertigkeiten: Musikstudierende schätzen ihre Fähigkeiten diesbezüglich signifikant besser ein als Nicht-Musikstudierende, t(122) = 2,48; p = ,015; d = 0,45.
Die Gruppe der Musikstudierenden weist gegenüber den Nicht-Musikstudierenden signifikant höhere Werte auf bezüglich Allgemeine Musikalische Erfahrenheit (Gold-MSI), t(122) = 11,14; p < ,001; d = 2,04, und mentalem Tonhöhenvorstellungsvermögen (aPIAT), t(122) = 7,38; p < ,001; d = 1,35, aber nicht bezüglich Leistungen des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses (JaJ), t(122) = 1,76; p = ,080; d = 0,32, auch wenn eine positive Tendenz zu erkennen ist (Tabelle 1).
Testung der Hypothesen
Die formulierten Hypothesen 1 bis 3 zielen auf eine Erkundung möglicher Zusammenhänge zwischen visuell-räumlichem (JaJ) sowie klanglich-musikalischem (aPIAT) Arbeitsgedächtnis und Qualitäten des Ohrwurm-Erlebens. Die Hypothesen 1 und 2 stehen in Abhängigkeit zum Kontrollverlangen, die Häufigkeit des Ohrwurm-Erlebens und zeitliche Dauer von Ohrwurm-Episoden erscheinen damit abhängig vom Wunsch, die erlebten Ohrwürmer zu überwinden. Die Daten zeigen jedoch, dass Ohrwürmer generell nicht als sehr störend empfunden werden (M = 2,49; Mdn = 2,43; SD = 0,62, auf einer Skala von 1 bis 5), und auch das Gefallensurteil vor und nach dem Ohrwurm-Erlebnis ändert sich in der Regel nicht, wobei die betreffenden Musikstücke zudem generell eher gemocht wurden.
Die Hypothesen wurden mittels ordinaler Regression geprüft, mit Ohrwurm-Häufigkeit, -Dauer und -Länge als abhängigen Variablen (DV) und der Gold-MSI-Skala Allgemeine Musikalische Erfahrenheit (General Musical Sophistication, GMS) als Prädiktor für musikalische Expertise; um Kollinearität zu vermeiden, wurde die Variable Studienfach nicht als Prädiktor genutzt, da die GMS-Skala hierzu ein exakt differenzierendes Maß bietet.
Als weitere Prädiktoren wurden Arbeitsgedächtnisleistungen und der IMIS-Faktor Negative Valenz eingesetzt, da in Hypothese 1 und 2 eine negative Interaktion zwischen den beiden Prädiktoren vorhersagt wird, in dem Sinne, dass bei höherer negativer Valenz eine größere Arbeitsgedächtniskapazität zu einer besseren Inhibitionsfähigkeit führen könnte. Die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses wurde mittels JaJ und aPIAT getestet. Da das mit dem aPIAT getestete Tonhöhenvorstellungsvermögen allerdings deutlich mit Expertise (GMS) korreliert, r(122) = ,62; p < ,001, wurden die aPIAT-Residuen nach Regression über GMS und Studienfach verwendet, um den Expertiseeffekt zu reduzieren und den Arbeitsgedächtnisanteil zu erhöhen. Die Korrelation der aPIAT-Residuen mit JaJ-Scores betrug r(122) = ,23; p = ,01. Die verwendete Prädiktorstruktur ist somit: DV ~ (JaJ + aPIAT-Res) * Negative Valenz + GMS (Tabelle 2).
Tabelle 2
Modell | Prädiktor | β (logit) | SE | z | p |
---|---|---|---|---|---|
Häufigkeit (R2Nagelkerke = , 23) | JaJ | 1,91 | 1,50 | 1,27 | ,203 |
aPIAT-Res | –1,11 | 0,71 | –1,57 | ,116 | |
Negative Valenz | 0,63 | 0,89 | 0,71 | ,478 | |
GMS | 0,74 | 0,17 | 4,39 | < ,001 | |
JaJ: Negative Valenz | –0,63 | 0,62 | –1,01 | ,311 | |
aPIAT-Res : Negative Valenz | 0,50 | 0,28 | 1,78 | ,075 | |
Dauer (R2Nagelkerke = , 15) | JaJ | 3,24 | 1,37 | 2,36 | ,018 |
aPIAT-Res | –0,39 | 0,66 | –0,59 | ,554 | |
Negative Valenz | 1,77 | 0,80 | 2,20 | ,028 | |
GMS | 0,10 | 0,15 | 0,65 | ,513 | |
JaJ: Negative Valenz | –1,02 | 0,57 | –1,79 | ,073 | |
aPIAT-Res : Negative Valenz | 0,05 | 0,26 | 0,19 | ,851 | |
Länge (R2Nagelkerke = , 12) | JaJ | –0,32 | 1,47 | –0,22 | ,828 |
aPIAT-Res | –0,88 | 0,71 | –1,23 | ,218 | |
Negative Valenz | 0,63 | 0,86 | 0,73 | ,463 | |
GMS | 0,31 | 0,16 | 1,87 | ,062 | |
JaJ: Negative Valenz | –0,04 | 0,61 | –0,07 | ,947 | |
aPIAT-Res : Negative Valenz | 0,45 | 0,28 | 1,58 | ,115 |
Anmerkung. Der Doppelpunkt zwischen zwei Variablen bezeichnet deren Interaktionseffekt. Signifikante Werte sind fettgedruckt.
Für Hypothese 1 findet sich nur ein signifikanter Beitrag von GMS; das Arbeitsgedächtnis spielt keine Rolle, auch nicht die Negative Valenz. Damit kann Hypothese 1 nicht bestätigt werden. Die Häufigkeit des Ohrwurm-Erlebens scheint vor allem von der Musikexposition abhängig.
Für Hypothese 2 ergeben sich signifikante positive Beiträge von JaJ und Negativer Valenz sowie eine Interaktion der beiden Variablen in die vorhergesagte negative Richtung, die allerdings nicht signifikant ist (p = ,075). Eine besseres Arbeitsgedächtnis befördert also die Dauer von Ohrwurm-Episoden, während sich diese negativ auf die Valenz auswirkt.
Für Hypothese 3 finden sich keine signifikanten Anhaltspunkte. Die Länge der musikalischen Segmente eines Ohrwurms scheint im Wesentlichen konstant zu sein; es zeigt sich aber eine leichte Tendenz zur Verlängerung mit steigender Expertise (GMS Odds Ratio = 1,16; p = ,06).
Diskussion
Das Ziel der vorliegenden Studie war, Dimensionen des Ohrwurm-Erlebens bei Musikstudierenden zu beschreiben und Zusammenhängen mit Leistungen des Arbeitsgedächtnisses und Tonhöhenvorstellungsvermögen sowie Expertise nachzugehen, um weitere Einblicke in die psychologischen Faktoren des Ohrwurm-Phänomens zu gewinnen. Als wichtigste Auslöser für das Ohrwurm-Erleben zeigen sich bei allen Befragten das kürzliche Hören eines Musikstücks sowie Erinnerungen und Assoziationen; bei Musikstudierenden spielt zudem das eigene Musizieren eine große Rolle. Diese Befunde stehen im Einklang mit dem Forschungsstand (Bailes, 2007; Liikkanen, 2012; Liikkanen & Jakubowski, 2020; Williamson et al., 2012; Williamson & Müllensiefen, 2012). Die Befragten erlebten überwiegend textgebundene Ohrwürmer, was auch Liikkanen (2012), Halpern und Bartlett (2011) sowie Liptak et al. (2022) berichten; jedoch erlebten etwa ein Drittel der Musikstudierenden (30%) und ein Viertel der Nicht-Musikstudierenden (25%) in unserer Studie eher instrumentale Ohrwürmer. Die Befunde der vorliegenden Studie bestätigen ebenfalls die Beobachtung, dass Ohrwürmer in der Regel aus präferierten Musikstücken entstammen (Beaty et al., 2013; Halpern & Bartlett, 2011), wobei die Gefallensurteile der Befragten offenbar nicht wesentlich durch das Ohrwurm-Erlebnis beeinträchtigt sind; tendenziell aber werden Ohrwürmer negativer empfunden, wenn das betreffende Musikstück schon vor dem Ohrwurm-Erleben nicht gemocht wurde. Auch scheint sich die Dauer einer Ohrwurm-Episode negativ auf das Ohrwurm-Erleben auszuwirken.
Unterschiede zwischen Musikstudierenden und Nicht-Musikstudierenden
Es zeigte sich, dass Musikstudierende signifikant häufiger Ohrwurm-Erlebnisse berichten als Nicht-Musikstudierende. Allerdings berichten Musikstudierende weder signifikant längere musikalische Segmente noch länger andauernde Ohrwurm-Episoden als Nicht-Musikstudierende. Diese Befunde decken sich somit mit Studien, die für Musikstudierende häufigere Ohrwurm-Erlebnisse (Beaty et al., 2013; Cotter & Silvia, 2017) fanden, bestätigen aber nicht Befunde, die längere Ausschnitte und länger andauernde Episoden (Cotter & Silvia, 2017) festgestellt haben. Dass die von Musikstudierenden erlebten Ohrwürmer zudem öfter dem Bereich instrumentaler und Klassischer Musik sowie dem Jazz entstammen als bei Nicht-Musikstudierenden, ist leicht auf musikalische Exposition und Präferenzen zurückzuführen (Bailes, 2007; Beaty et al., 2013; Halpern & Bartlett, 2011; Liikkanen, 2012). Auch die von Musikstudierenden geäußerte höhere Reproduktionstreue der erlebten Ohrwürmer kann als Folge der Expertisierung verstanden werden. Warum Musikstudierende deutlich häufiger Ohrwürmer erleben, ist aber noch nicht hinreichend geklärt. Musikalische Übezeiten (Liikkanen, 2012) und trainierte Gesangsfähigkeiten (Williamson & Müllensiefen, 2012) sind zwar als positive Faktoren gut beschrieben, allerdings bislang noch nicht kausal überprüft. So könnte die bei regelmäßig aktiv musizierenden und Musik studierenden Personen oft beobachtete größere Ohrwurm-Häufigkeit ein rein statistischer Effekt sein, der auf gesteigerter Exposition fußt. Zusätzlich könnten intensive Übeprozesse und Probenarbeit mit u. a. häufigem Wiederholen musikalischer Formteile die Auslösewahrscheinlichkeit von Ohrwürmern erhöhen. Um aber solche spezifischen Mechanismen voneinander zu trennen, bedarf es weiterer Studien. In den hier ausgewerteten Daten verschwinden derartige gruppenspezifische Unterschiede in der Ohrwurm-Häufigkeit zwischen hoch expertisierten (Musikstudierende) und überdurchschnittlich musikalisch erfahrenen Personen (Nicht-Musikstudierende): obwohl Musikstudierende sich intensiver und perspektivenreicher mit Musik beschäftigen als Nicht-Musikstudierende, scheint eine Sättigung in der Ohrwurm-Häufigkeit zu existieren, die auch nicht regelmäßig Musik ausübende oder studierende Personen erreichen können.
Korrelationen zwischen Arbeitsgedächtnis und Ohrwurm-Erleben
Hinsichtlich der visuellen und musikalischen Arbeitsgedächtniskapazität zeigte sich, dass Musikstudierende höhere Testwerte erzielten als Nicht-Musikstudierende, besonders im Tonhöhenvorstellungsvermögen (aPIAT). Dies entspricht bekannten Befunden über eine erhöhte Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses musikalisch ausgebildeter Personen (Talamini et al., 2016; Talamini et al., 2017; Yurgil et al., 2020). Nach Regression von Tonhöhenvorstellungsvermögen (aPIAT) auf musikalische Expertise (GMS und Musikstudium) bleibt nur eine eher kleine Korrelation mit visuell-räumlichem Arbeitsgedächtnis (JaJ) übrig, was darauf hindeutet, dass das Tonhöhenvorstellungsvermögen vor allem durch musikalisches Training bestimmt wird. Die Annahme, dass aufgrund dieser Expertisierung auch Zusammenhänge mit dem Ohrwurm-Erleben zu beobachten sein könnten, wurde in drei Hypothesen geprüft.
Grundsätzlich zeigen sich positive Korrelationen von Leistungen des Arbeitsgedächtnisses (JaJ, aPIAT) mit der Häufigkeit erlebter Ohrwürmer (H1) und der zeitlichen Dauer von Ohrwurm-Episoden (H2), aber nicht mit der Länge musikalischer Segmente der erlebten Ohrwürmer (H3). Die positiven Zusammenhänge der Episoden-Dauer und des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses (JaJ) sind im Wesentlichen identisch in beiden Gruppen. Dies lässt vermuten, dass die Persistenz eines Ohrwurms vor allem eine Funktion der allgemeinen Arbeitsgedächtniskapazität ist, wohingegen die Anfälligkeit für Ohrwurm-Erlebnisse vor allem durch die Musikexposition getrieben wird und die Länge der als Ohrwurm repetierten musikalischen Segmente möglicherweise eine Konstante darstellt. Ein vermuteter negativer Effekt des Arbeitsgedächtnisses auf die Überwindung bzw. Inhibition von negativ erlebten Ohrwürmern ließ sich anhand der erhobenen Daten nicht sicher etablieren. Da die Befragten in dieser Studie grundsätzlich ihre Ohrwurm-Erlebnisse eher positiv eingeschätzt haben, bedarf es in weiteren Studien einer größeren Anzahl an Personen mit negativ erlebten Ohrwürmern, um diese Effekte abschließend zu klären.
Implikationen und Ausblick
Insgesamt erscheint eine Differenzierung expertisierter Fähigkeiten sinnvoll, um Phänomene des Ohrwurm-Erlebens besser beschreiben zu können. So zeigt sich Exposition als bedeutsamster Faktor für die Häufigkeit des Ohrwurm-Erlebens, die oft in eine Sättigung übergeht, was aber eher selten als unangenehm empfunden wird. Die hier vorgestellten Befunde entsprechen weitgehend dem berichteten Forschungsstand, können aber hinsichtlich der gruppenspezifischen Verhaltensweisen im Umgang mit Ohrwürmern sowie den beobachteten Korrelationen mit Leistungen des Arbeitsgedächtnisses für Musikstudierende ein genaueres Bild zeichnen als bislang vorliegende Studien. Darüber hinaus konnten einige Befunde der Literatur nicht bestätigt werden. Teilweise zeigten sich gar gegenteilige Tendenzen, etwa die Zusammenhänge längerer Dauern von Ohrwurm-Episoden mit besseren Arbeitsgedächtnisleistungen, was weiterer klärender Forschung bedarf. Ebenso ist beachtenswert, dass die Länge der musikalischen Segmente von Ohrwürmern mit keiner der beobachteten Variablen in Zusammenhang steht. Der große Einfluss der Musikexposition legt zudem nahe, reaktive, d. h. direkt nach der Exposition auftretende, und spontane, d. h. mit zeitlicher Verzögerung nach einer Exposition auftretende, Ohrwürmer zu unterscheiden. Zudem sind weitere Fragen zu stellen nach der Art des Umgangs mit Ohrwürmern in der hoch spezialisierten Gruppe der Musikstudierenden, besonders hinsichtlich der möglichen Bedeutung von INMI-Phänomenen im Rahmen mentalen Übens.