Das Videoportal TikTok des chinesischen Unternehmens ByteDance nahm als Nachfolger der App musical.ly im August 2018 offiziell in vielen Ländern den Dienst auf, so auch in Deutschland. Im Jahr 2021 verzeichnete die App TikTok mehr Downloads als andere Social Media-Angebote wie etwa Facebook und WhatsApp. Binnen kürzester Zeit entwickelte sich das Videoportal zu einer der beliebtesten Online-Plattformen und lockte nicht nur zahlreiche Nutzer*innen, sondern auch unzählige sogenannte Content Creators an. Zwischen unterhaltsamen Tanzvideos, audiovisuellen Musikbeiträgen, komödiantischen Einspielern und aufbereiteten Nachrichten finden sich mittlerweile auch zahlreiche Beiträge, die der Wissenschaftskommunikation dienen.
Im Juni 2020 startete TikTok das Programm #LernenMitTikTok, wodurch zahlreiche Kanäle, Beiträge und Inhalte gefördert wurden, die in den Bereich Lernen und Fachwissen angesiedelt waren. Erklärtes Ziel der Kampagne war es, für mehr Diversifizierung auf der Plattform zu sorgen. Zahlreiche Inhalte und Creators profitierten von dieser Aktion, was überraschend erscheinen mag, da das Videoportal lediglich 180 Sekunden Raum für Beiträge bietet. Anfangs waren es sogar nur 60 Sekunden.
Im Folgenden soll von einem Selbstversuch aus dem Jahr 2021 berichtet werden, bei dem es darum ging, musikwissenschaftliche Beiträge für TikTok zu erstellen. Daran anschließend sollen die Erfahrungen und Potentiale der App mit Blick auf die musikwissenschaftliche Kommunikation diskutiert werden.
TikTok – eine soziale Video-App
Wer sich registriert hat, kann auf alle Videos von TikTok zugreifen. Diese werden auf der sogenannten Für Dich-Seite angezeigt. Die Videos werden automatisch abgespielt und können mit „gefällt mir“ markiert, kommentiert und geteilt werden. Mittels einer Wischgeste kann man Videos überspringen. In der Regel wird die Anwendung auf Smartphones genutzt, auch obwohl darauf über einen Browser an einem anderen internet-fähigen Endgerät zugegriffen werden kann. Möchte man selbst Videos für TikTok erstellen, kann man dies direkt in der App bewerkstelligen, da dort Funktionen für Videoschnitt, Bildbearbeitung und klangliche Einstellung direkt implementiert sind. An wen die Videos anschließend ausgestrahlt werden, wird über einen internen Algorithmus bestimmt, über den bisher wenig bekannt ist, obwohl zahlreiche Vermutungen und Theorien innerhalb der App existieren.
Auch die Forschung zu TikTok kann dazu wenig Aufschluss geben, denn sie ist aktuell noch sehr überschaubar. Einige Nutzer*innen scheinen als Prosument*innen auf der App aktiv zu sein, während ein Großteil lediglich Inhalte rezipiert (Collie & Wilson-Barnao, 2020). Der Erfolg der Anwendung wird verschiedenen besonderen sozialen Funktionen zugeschrieben (Stitch- und Duett-Funktion; siehe Omar & Dequan, 2020). Aber auch die „Schlafzimmer-Ästhetik“, die häufig in der App zum Einsatz kommt, wird als wichtiger Erfolgsfaktor betrachtet (Kennedy, 2020). Viele Content Creators, darunter auch prominente Personen, geben Einblicke in ihr alltägliches Umfeld und scheinen weniger auf das eigene Auftreten und die eigene Inszenierung zu achten, was die Analogie zum Sendestudio im heimischen Schlafzimmer erklärt. Beiträge können mit Hashtags, also Schlagwörtern zur besseren Auffindbarkeit und Kategorisierung, versehen werden. Einige dieser Begriffe entwickeln sich hin und wieder zu regelrechten Trends, die von weiteren Nutzer*innen aufgegriffen werden. Einer dieser Hashtags war 2020 beispielsweise „LernenMitTikTok“.
Wissenschaftskommunikation
Die von TikTok gestartete Initiative „LernenMitTikTok“ erfreute sich großer Beliebtheit und zog zahlreiche Personen aus Wissenschaft und Bildung zur App. Wissenschaftskommunikation findet seit einigen Jahren zunehmend auf sozialen Medien oder Videoplattformen wie z. B. YouTube statt (Welbourne & Grant, 2016). Neben den vielen Fachbeiträgen aus den Bereichen der Naturwissenschaft gibt es auch innovative Formate und erfolgreiche Persönlichkeiten, die musikwissenschaftsnahe Beiträge veröffentlichen (z. B. Adam Neeley, https://www.youtube.com/c/AdamNeely). Hierbei bieten sich gerade audiovisuelle Formate an, um über Musikwissenschaft zu sprechen, auch wenn Apps wie TikTok die Möglichkeiten zur Kommunikation limitieren, etwa durch den begrenzten Platz für Text und die vorgeschriebene maximale Gesamtlänge für Videobeiträge (siehe oben). Um wissenschaftlich akkurate Beiträge zu erstellen, müssen hier einige Kompromisse eingegangen werden, was möglicherweise eine Erklärung dafür sein könnte, warum viele Wissenschaftler*innen keine Beiträge auf dieser Plattform veröffentlichen möchten. Dabei bietet gerade TikTok die Möglichkeit, eine sehr junge Zielgruppe (Collie & Wilson-Barnao, 2020) zu erreichen und diese im besten Fall schon früh für das eigene Fach zu begeistern. Eine Idee, der der Autor dieses Beitrags im Jahr 2021 nachgegangen ist.
Selbstversuch: Der musikwissenschaftliche TikTok-Kanal
Da der folgende Abschnitt einen persönlichen Erfahrungsbericht darstellt, soll im Folgenden aus der Ich-Perspektive berichtet werden.
Ich war begeistert von den inspirierenden Beiträgen auf TikTok, die nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich waren. Eine junge deutsche Professorin für digitale und vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit sprach über Erhebungs- und Auswertungsmethoden in ihrem Fach, der berühmte Wissenschaftsjournalist Hank Green erklärte beispielsweise, wozu unser Kieferknochen wichtig ist und dass Helium eine endliche Ressource ist. Forrest Valkai sprach in seinen Videos über Biologie während Jack Lawro Beiträge zur Philosophie veröffentlichte. Allen gemein war, dass sie Videos produzierten, die in einem persönlich wirkenden Umfeld gefilmt, aber trotzdem professionell bearbeitet waren. Zudem veröffentlichten sie alle regelmäßig, die meisten sogar täglich. Dies setze ich mir selbst als Prämisse. Für das Jahr 2021 erarbeitete ich inhaltliche Kategorien und plante die Erstellung der Videos meist rund zwei Monate im Voraus. Für die Aufnahmen erstand ich ein Lavaliermikrofon, Stative für mein Smartphone und ein Ringlicht. In einer Produktionsrunde erstellte ich meist zwischen 20 und 30 Videos am Stück.
Vergangenes Jahr veröffentlichte ich jeden Tag mindestens einen Videobeitrag, stellte mich in sogenannten Live Sessions den Fragen anderer Nutzer*innen und interagierte in Kommentaren sowie über direkte Nachrichten mit Personen, die auf meine Inhalte reagierten. Mittlerweile folgen meinem Kanal @drnickrivers – Musikwissenschaftler mit Mitteilungsbedürfnis etwa 12.000 Personen und meine Videos wurden in Summe über 351.000 Mal mit „gefällt mir“ markiert.
Inhaltich berichtete ich zunächst über das Studium der Musikwissenschaft, musikpsychologische Phänomene (Amusie, Cocktail Party-Effekt, Absolutes Gehör, uvm.), Erhebungs- und Auswertungsmethoden und aktuelle Studien (Titel der Kategorie: „Aktuelle Forschung“). Hinzu kamen Formatideen, die mir durch Beiträge aus dem Bereich der Popular Music Studies kamen, etwa häufig inhaltlich missverstandene Songtexte zu erläutern („Falsch verstandene Songtexte“) oder Musikstücke zu präsentieren, die mehrfach gecovert wurden und deren Original einigen Nutzer*innen möglicherweise unbekannt ist („Das ist ein Cover?“). An den Titeln der Beiträge lässt sich erkennen, dass ich inhaltlich immer mehr auf musikjournalistisch anmutende Themen zurückgegriffen habe, da mir schnell klar wurde, dass ich mein Ziel der täglichen Kommunikation nicht nur mit reinen Wissenschaftsthemen erreichen konnte und dass gerade diese Themen sehr gefragt waren. So folgten Beiträge zu bedeutenden Covern von Alben, häufig besprochene Musikvideos, Quizformate, Besprechungen von verhältnismäßig unbekannten Genres und Einblicke in die Biografien von Musiker*innen.
Einige der erfolgreichsten Videos besprachen unter anderem diese Themen: das kürzeste Musikstück, Software für die nächste Hausarbeit, aktuelle Forschung zu Deutschrap (Steinbrecher & Pichler, 2020) und der Text von Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“. Mit Erreichen der 10.000 Follower wurden zudem neue Optionen innerhalb der App freigeschaltet, wie etwa Amplify (die App kann–mit Einwilligung–, die eigenen Videos für die Bewerbung von TikTok einsetzen) oder aber Marketplace (eine Plattform für Werbeangebote).
Fazit
Das Thema Musik ist sehr beliebt auf TikTok. Vor allem Hintergrundinformationen zu bekannten Musikstücken und Musiker*innen werden gerne rezipiert und geteilt. Das Interesse an musikwissenschaftlichen Studien, Methoden oder Studiengängen fällt dagegen geringer aus. Hier waren vor allem meine Videos am gefragtesten, die sich mit populären Genres beschäftigten (z. B. Deutschrap oder Metal). Dennoch waren es gerade die Videos, in denen ich Theorien, Rezeptionsprozesse oder empirische Ergebnisse besprochen habe, die spannende Nachfragen evozierten. Ein grundsätzliches Interesse an Musikwissenschaft scheint zu bestehen, allerdings ist es nicht leicht, die interessierten Menschen zu erreichen. Im Umfeld von „Science Tok“ müssen musikwissenschaftliche Videos mit Beiträgen über faszinierende Phänomene aus dem Weltall oder den menschlichen Körper konkurrieren, im Bereich „Music Tok“ dagegen mit Videos von beliebten Stars und erfahrenen Praktiker*innen. „Music Science Tok“ bietet jedoch die Möglichkeit, die Schnittmenge der beiden Interessensgruppen mit gut gemachten Inhalten zu begeistern. Meiner Einschätzung nach sollten musikwissenschaftliche TikToks ansprechend, gern auch humorvoll, verständlich und mit Beispielen versehen sein. Die Videos müssen nicht professionell aussehen–einige erfolgreiche Kanäle scheinen gerade aufgrund ihrer amateurhaften, aber dafür nahbaren Gestaltung beliebt zu sein (Kennedy, 2020).
Als Plattform zum Rekrutieren von potentiellen Versuchsteilnehmer*innen eignet sich TikTok leider nicht. Auch mit der Reichweite meines Kanals konnten nur wenig Interessierte für Studien gewonnen werden. Es scheint, dass Werbung, selbst wenn sie für eine wissenschaftliche Studie ist, selten als Inhalt angenommen wird. Abschließend kann ich sagen, ich habe die Arbeit für dieses Projekt unterschätzt, die Reaktionen einiger Nutzer*innen können sehr demotivierend sein, ich habe viel gelernt (vor allem über Kommunikationsstile und Medienproduktion) und viele interessante gleichgesinnte Kolleg*innen kennengelernt.
Ausblick
Musikwissenschaftliche Kommunikation, also eine breite Wissensvermittlung zu musikalischen Phänomenen, Theorien und Studien, kann von TikTok profitieren. Viele Bereiche des Fachs, die ich auf meinem Kanal bisher nur angeschnitten habe, könnten noch besprochen werden, etwa Themen aus historischer Musikwissenschaft, Akustik oder Musiktheorie (wobei letztere bereits häufig von kompetenten Personen jenseits der Wissenschaft besprochen wird).
Mittlerweile veröffentliche ich nur noch mit reduziertem Umfang, aber das Interesse an meinen Inhalten ist nach wie vor recht hoch. Die redaktionelle Vorbereitung wird zunehmend aufwendiger, da ich mehr recherchieren muss und mich nicht mehr auf eigene Arbeiten berufen kann. Deshalb bin ich immer offen für Vorschläge. Wenn Sie also Themen oder Studien haben, die in einem kurzen Video besprochen werden könnten, geben sie mir gern Bescheid und vergessen Sie bitte nicht, dem Musikwissenschaftler mit Mitteilungsbedürfnis auf TikTok zu folgen.