Durch die Covid-19-Pandemie und den Lockdown ab Frühjahr 2020 veränderte sich das private und öffentliche Leben in Deutschland schlagartig, mit Auswirkungen auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Bereiche. Bundespräsident Steinmeier hob in einer Rede im April 2020 die unterschiedlichen Reaktionen der Bevölkerung auf die Krise hervor: „Viele […] erleben diese Tage eher als eine Art erzwungene Entschleunigung. Wir sind zur Ruhe aufgerufen und spüren doch eine innere Unruhe“ (Steinmeier, 2020). Nicht nur bei ihm wurde die Pandemie mit einer gefühlten „Entschleunigung“ in Verbindung gesetzt, auch Queen Elizabeth II. äußerte sich zur selben Zeit ähnlich: „And though self-isolating may at times be hard, many people of all faiths and of none are discovering that it presents an opportunity to slow down, pause and reflect in prayer or meditation“ (Queen Elizabeth II., 2020).
Größere Veränderungen im persönlichen Alltag können die individuelle Zeitwahrnehmung beeinflussen. Ein Anstieg der kognitiven Beanspruchung, etwa durch das Bewältigen ungewohnter Herausforderungen, oder Sorgen wegen essenzieller Bedürfnisse, können zu einer gefühlten Verlangsamung der Zeit führen. Episoden enthusiastischer Betätigung hingegen, etwa in Form neuer Projekte und Erfahrungen, können eine gefühlte Beschleunigung der Zeit bedingen, die dann geradezu dahinzufliegen scheint (Flaherty et al., 2005). Droit-Volet et al. (2013) sehen in dem Phänomen der veränderten Zeitwahrnehmung die Fähigkeit, sich dynamischen Veränderungen der Umgebung und des Alltags anzupassen. Diese Erklärungsmodelle und Effekte wurden auch im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie untersucht und bestätigt (Grondin et al., 2020; Loose et al., 2022). In Frankreich berichteten Befragte von einer gefühlten Verlangsamung der Zeit während des Lockdowns, wobei insbesondere Langeweile und Niedergeschlagenheit, hervorgerufen durch Einschränkungen des sozialen Lebens und der Mobilität, als Gründe angegeben wurden (Droit-Volet et al., 2020). In Großbritannien vertraten über 80% der befragten Personen die Meinung, ihre Zeitwahrnehmung erschiene ihnen während des Lockdowns verändert zu sein, wobei sowohl Be- als auch Entschleunigung genannt wurden (Ogden, 2020). Psychisches Wohlbefinden, Auslastung, Abwechslung im Alltag und das Alter der Befragten sind hier moderierende Variablen (Ogden, 2020).
Neben den Auswirkungen auf das Zeitempfinden führten die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie für viele Menschen auch zu messbaren Veränderungen der zur Verfügung stehenden Zeit, die bestimmten Lebensbereichen und Aktivitäten eingeräumt werden konnte oder musste. Jürgen Rinderspacher (2021, S. 2) sieht in einer Pandemie gar ein „durch und durch zeitliches Event“. Durch Homeoffice und Homeschooling verbrachten Menschen mehr Zeit zuhause, längere Reisen waren nicht mehr möglich und viele Freizeitaktivitäten ließen sich nicht mehr unternehmen. Diese Veränderungen wurden häufig negativ bewertet, etwa aufgrund gestiegenen Stresses, teilweise wurden sie aber auch positiv wahrgenommen, wenn beispielsweise neue Hobbys (wieder-)entdeckt werden konnten (Marques & Giolo, 2020; Rinderspacher, 2021, 2022).
Auswirkungen für Musikrezipierende und -schaffende
Die Beschäftigung mit Musik gehört zu den Aktivitäten, die während des Lockdowns am häufigsten intensiver ausgeführt wurde, insbesondere zur Emotionsregulation und als Ersatz für fehlende soziale Interaktionen (Cabedo-Mas et al., 2021; Fink et al., 2021; Vidas et al., 2021). Die Zufriedenheit von Befragten korrelierte positiv mit der Frequenz, mit der sie während der Corona-Krise Musik gehört hatten, nicht aber mit dem allgemeinen Medienkonsum in derselben Zeit (Krause et al., 2021). Musik kann in der Tat das Zeiterleben beeinflussen (Droit-Volet et al., 2010; für einen Überblick siehe Wang & Wöllner, 2020). Daher ist es auch plausibel, dass Menschen bewusst Musik während einer Pandemie- bzw. Lockdown-Situation hören, in der die Zeit manchmal still zu stehen scheint. Ähnliche Chancen sieht auch Lisa Urkevich (2020), die zudem ein gesteigertes Interesse der allgemeinen Bevölkerung für das praktische Musizieren selbst erkennt:
Non-music-major students are emailing and calling me for advice as they dust off old guitars, family members are learning to play the keyboard on their iPads, amateur friends are struggling with the tuning of violins, and it seems like all of a sudden, during non-music-related Zoom meetings, I see instruments in the background on everyone’s screen. (Urkevich, 2020, S. 6)
Der Kultursektor erfuhr große mediale und politische Aufmerksamkeit, nicht nur während der ersten Monate des Lockdowns. Die Clubszene, Musikindustrie und allgemein die Kulturschaffenden wurden durch abgesagte Veranstaltungen und ausbleibende Einnahmen bei gleichbleibenden Ausgaben schwer getroffen. Die Zeit spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Generalpause“ für den Kulturbetrieb (Lemke-Matwey, 2020, S. 41). Spiro et al. (2021) berichten von erheblichen Herausforderungen und damit einhergehenden Konsequenzen für auftretende Künstler/-innen in Großbritannien im Frühjahr 2020. Zugleich erzählten Befragte aber auch von neuen professionellen Möglichkeiten und auch positiven Auswirkungen, die durch die zur Verfügung stehende Zeit bedingt waren.
Neben unmittelbaren Lösungsstrategien für Künstler/-innen in finanziellen Notlagen stießen die Auswirkungen der Krise auch Diskussionen über die Bedeutung von Kultur, nachhaltige Förderungen und innovative Konzepte der Verbreitung an (Jeannotte, 2021). Digitale Lösungen für das gemeinschaftliche Musizieren wurden durch die Kontaktbeschränkungen erheblich häufiger und von vielen Praktizierenden zum ersten Mal überhaupt genutzt (Onderdijk et al., 2021). Entwicklungen, die durch die Krise angestoßen wurden, werden womöglich andauernde Auswirkungen auf die digitale Musikverbreitung haben: „This unprecedented global situation has opened [musicians’] eyes to a whole new range of ideas that [they] will be able to use in the years to come, running alongside more traditional ways of performing and delivering workshops“ (Parsons, 2020, S. 403). Entgegen den zahlreichen dokumentierten Bemühungen der Musikschaffenden, ausfallende Live-Auftritte durch digitale Angebote zu ersetzen, berichten Sim et al. (2020), dass während der Krise nicht etwa mehr, sondern weniger Musik über den populären Streamingdienst Spotify konsumiert wurde. Eine Verringerung der durchschnittlichen Fahrzeit, bzw. ein Anstieg der Zeit, die zuhause verbracht wird, erklären diesen Effekt.
Journalistische Berichterstattung während des ersten Lockdowns
Die Corona-Pandemie sorgte bereits vor dem ersten Lockdown global für Schlagzeilen. Eine Analyse der Titelseiten spanischer und italienischer Tageszeitungen im Frühjahr 2020 ergab, dass 71% der dort veröffentlichten Artikel einen direkten Bezug zur Pandemie aufzeigten (Tejedor et al., 2020). Neben der bloßen Verbreitung von Fakten liegt eine zentrale Rolle der Printmedien in der Interpretation und Aufbereitung dieser Informationen. Zu den Aufgaben überregionaler Tages- und Wochenzeitungen gehören Berichte aus allen Bereichen—oder „Teilsystemen“ (Luhmann, 2017, S. 128)—der Gesellschaft. Neuberger und Kapern (2013, S. 29) fassen die Funktion des Journalismus, wie sie von Luhmann verstanden wird, als „Selbstbeobachtung der Gesellschaft“ zusammen; journalistische Berichterstattung zeichne als „Seismograf“ die ausschlaggebendsten Ereignisse der Gegenwart auf, als „Metronom“ halte sie die verschiedenen Teilsysteme in einem Takt (Neuberger & Kapern, 2013, S. 27).
Forschung zum überregionalen Printjournalismus in Deutschland zeigte, wie die Auswirkungen der Corona-Pandemie von Anfang an reflektiert wurden (Maurer et al., 2021). Dies sollte auch für die bereits erwähnten Kernthemen der veränderten Zeitwahrnehmung und der Beschäftigung mit Musik während des Lockdowns gelten. Passend dazu spricht Die Zeit am 19. März 2020 von einem „gigantischen Experiment“, „[i]rgendwo zwischen dem fanatischen Weiter-so von vor der Krise und der auf die brutalstmögliche Art runtergefahrenen Gesellschaft“ (Ulrich, 2020, S. 13). Gerade Reportagen, die verschiedene Milieus beleuchten, und Interviews mit Akteuren aller gesellschaftlichen Schichten sollten in der Lage sein, die allgemeine Stimmung der Bevölkerung während des ersten bundesweiten Lockdowns einzufangen. In einer Interviewstudie sahen Journalisten/-innen eine ihrer zentralen Aufgaben während der Corona-Krise in der Verbreitung—oftmals negativ konnotierter—menschlicher Geschichten über Verluste und Sorgen (Jukes et al., 2022). Als solches vermag die journalistische Berichterstattung womöglich auch als emotionaler Spiegel der Gesellschaft zu fungieren.
Ziel und Ansatz der Studie
Die journalistische Berichterstattung im Zeitraum des ersten Lockdowns hat die Auswirkungen der Pandemie eingefangen, begleitet und kommentiert. Auswirkungen auf (musikalische) Freizeitaktivitäten und das subjektive Zeitempfinden sind zudem wissenschaftlich dokumentiert. Empirische Befunde begründen die Annahme, dass das Wegfallen von Musikangeboten einerseits und zunehmender bzw. alternativer Musikaktivtäten im Alltag andererseits mit der Zeitwahrnehmung im Zusammenhang stehen könnten. Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, relevante Themen zu identifizieren, die sich mit Musikaktivitäten und Zeitempfinden während der Corona-Pandemie befassen. Ein besonderer Fokus liegt darauf, inwieweit sich thematische Bezüge zwischen Musik und der viel diskutierten veränderten Zeitwahrnehmung in Printmedien feststellen lassen und wie über diese Themen berichtet wurde. Dahingehend werden assoziative Verbindungen der thematischen Inhalte ebenso wie die emotionale Färbung der Berichterstattung untersucht.
Mit einem explorativen Ansatz wurde die Berichterstattung relevanter Printmedien in den ersten drei Monaten des Lockdowns analysiert. Leitende Fragen für die Studie waren dabei: Welche musik- und zeitbezogenen Themen werden in der Berichterstattung aufgegriffen? Wie oft werden beide Themenbereiche zusammen in Artikeln behandelt? Welche darüber hinaus gehenden Themen werden am häufigsten mit Musikalität und Zeitempfinden assoziiert? Bestehen Unterschiede in der emotionalen Färbung von Zeitungsartikeln hinsichtlich der behandelten Themen, und verändert sich die emotionale Färbung im Zeitraum des ersten Lockdowns?
Methode
Korpus
Die ursprüngliche Stichprobe bestand aus 297 Zeitungsartikeln, die für den Zweck der Studie nach eingehender Sichtung auf einen Korpus von 185 Zeitungsartikeln eingeschränkt wurde. Die Artikel stammten aus fünf überregionalen Tages- und Wochenzeitungen (Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, die tageszeitung). Die Auswahl berücksichtigt die auflagenstärksten Zeitungen Deutschlands (Schröder, 2020), wobei wahrgenommene Qualität (Bild) bzw. ein wirtschaftlicher Fokus der Berichterstattung (Handelsblatt) Ausschlusskriterien darstellten. Für die Erhebung wurde der Zeitraum vom 16. März bis zum 15. Juni 2020 gewählt, der den ersten Lockdown abbildet: Am 16. März wurde dieser beschlossen, erste Kita- und Schulschließungen erfolgten noch bevor der Lockdown am 22. März in Kraft trat. Wegweisend war ein Kontaktverbot, in dessen Zuge nicht lebenswichtige Geschäfte geschlossen wurden und Arbeitnehmende sich ins Home-Office zurückzogen (Imöhl & Ivanov, 2021; Kodzo, 2022). Dieses Kontaktverbot wurde am 4. Mai gelockert, Schulen durften wieder öffnen, am 11. Mai auch wieder Restaurants und Bars, während ab Mitte Juni nahezu das normale Leben zurückkehrte (Imöhl & Ivanov, 2021; Kodzo, 2022). Der Zeitraum wurde anschließend in sechs zweiwöchige Perioden unterteilt (P1: 16.–31.03., P2: 1.–15.04., P3: 16.–30.04., P4: 1.–15.05., P5: 16.–31.05., P6: 1.–15.06.).
Die Zeitungsartikel wurden über die Plattform https://genios.buecherhallen.de abgerufen. Ein Suchterm wurde zur Eingrenzung der Stichprobe angewendet ([musik*, musizier*] UND [*langsam*, "slow motion", entschleun*, ruhig*, Ruhe, Zeit, Dauer] UND [refle*, besinn*, erlebe*, empfind*, wahrnehm*, spüre*] UND [Corona, Covid-19, "in diesen Zeiten", "in dieser Zeit", "in der jetzigen Situation"]). Der Operator „UND“ bewirkte, dass Suchergebnisse gefunden wurden, die jeweils mindestens einen Begriff, ein Lexem oder eine Phrase der vier eckigen Klammern enthielten. Die Begriffe wurden derart gewählt, dass ein musikalischer, Zeit- und Reflexions- sowie Pandemie-Bezug in allen Artikeln angenommen werden konnte. Ein angepasster, aber inhaltlich identischer Suchterm wurde auf der Seite https://fazarchiv.faz.net eingesetzt.
Insgesamt wurden durch Anwendung des Suchterms 297 Zeitungsartikel im Erhebungszeitraum identifiziert, die ungleichmäßig über die Perioden P1–P6 verteilt waren (Min: 15; Max: 44). Die Zeitungsartikel wurden von zwei der drei Autoren (CW, FF) hinsichtlich ihrer Relevanz für die Fragestellung der Arbeit eingestuft. 112 Presseartikel wurden nach dieser Bewertung als irrelevant eingestuft, dazu zählten etwa „Service-Einträge“, Leserbriefe und Inhaltsseiten sowie solche Artikel, in denen die notwendigen Stichwörter zwar auftauchten, aber die Themen inhaltlich kaum oder gar nicht behandelt wurden. Die korrigierte Stichprobe bestand aus nunmehr 185 Artikeln. Die Artikel der korrigierten Stichprobe wurden von einem Autor (FF) auf fünfstufigen Skalen hinsichtlich der Relevanz der Kernthemen „Corona“, „Musik“ und „Zeit“ bewertet. Ein Teil der Stichprobe (n = 20) wurde ebenfalls von einer anderen Autorin (MK) bewertet. Rangkorrelationen zwischen den Bewertungen der beiden Autoren (FF, MK) zeigten für die drei Themenbereiche jeweils starke Übereinstimmungen (rs = ,75; ,90; ,71; alle p < ,001).
Analyse
Aufgrund der thematisch vorselektierten Stichprobe und dem Fokus auf musik- und zeitbezogene Inhalte wurde ein Kategoriensystem zur differenzierten Bestimmung inhaltlicher Schwerpunkte der Zeitungsartikel induktiv entwickelt (thematische Kategorien; Bonfadelli, 2002, S. 96–97). Dieser Vorgang wurde von einem Autor vorgenommen (FF), wobei ein einzelner Artikel mehreren thematischen Kategorien zugewiesen werden konnte. Eine Teilstichprobe (n = 30) wurde außerdem von einer zweiten Autorin (MK) kategorisiert. Insgesamt zeigte sich eine moderate bis gute Übereinstimmung in der Zuweisung der Kategorien (κ = 0,75). Darüber hinaus wurden qualitative und quantitative Inhaltsanalysen (Häufigkeitsvergleiche, Varianzanalysen) zur Datenauswertung angewendet.
Thematische Bezüge wurden mithilfe der Assoziationsanalyse ermittelt („Association Rule Mining“, Agrawal et al., 1993). Bei dieser Methode werden Merkmale von Datensätzen auf häufig gleichzeitig auftretende Items untersucht. Damit kann in diesem Kontext festgestellt werden, welche Kategorien mit hoher Wahrscheinlichkeit gemeinsam in den Zeitungsartikeln auftreten. Mögliche Verbindungen von zwei Kategorien werden als Regeln identifiziert und in Form einer Wenn-Dann-Beziehung formuliert (Bramer, 2020), wobei X als antecedent und Y als consequent bezeichnet wird. Zur Bestimmung der Verbreitung und Stärke solcher Assoziationen werden hier drei Parameter („measures of interestingness“) verwendet.
-
Support: beschreibt die Häufigkeit, mit der die Kategorien X und Y gemeinsam in Zeitungsartikeln auftreten bezogen auf die Gesamtheit der Zeitungsartikel.
-
Confidence: beschreibt die Häufigkeit, mit der die Kategorien X und Y gemeinsam in Zeitungsartikeln auftreten, in denen die Kategorie X vorhanden ist.
-
Lift: beschreibt die Häufigkeit, mit der die Kategorie X in Zeitungsartikeln vertreten ist, wenn die Kategorie Y vertreten ist, wenn die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Kategorie Y kontrolliert wird. Ein Lift > 1 indiziert eine positive Assoziation (Kategorien X und Y erscheinen mit höherer Wahrscheinlichkeit gemeinsam in einem Zeitungsartikel).
Vor der Analyse wurden Grenzwerte für die zu identifizierenden Regeln und die Parameter Support und Confidence festgelegt (Bramer, 2020). Die Analyse wurde mit der Statistiksoftware R (R Core Team, 2021), RStudio (RStudio Team, 2021) und dem Paket „arules“ durchgeführt (Hahsler et al., 2021).
Die emotionale Färbung von Texten wurde durch eine Sentimentanalyse quantitativ erfasst. Dafür wurde das SentText-Webtool (Dangel & Schmidt, 2020; Schmidt et al., 2021) und das integrierte SentiWS-Lexikon von Remus et al. (2010) verwendet. Das Lexikon verzeichnet über 32.000 Begriffe (inkl. Flexionsformen). Etwa die Hälfte der Begriffe ist dabei in unterschiedlichem Ausmaß positiv konnotiert (Werte zwischen „0“ und „1“), die andere Hälfte negativ (zwischen „0“ und „-1“). Die Methode der Wertzuweisungen orientiert sich an älteren Lexika und manuellen Überarbeitungen und wird detailliert bei Remus et al. (2010) beschrieben. Die Analyse berechnete für jeden Artikel des Korpus einen normalisierten Sentimentwert, der sich aus der Summe aller positiven und negativen Werte eines Texts ergibt, dividiert durch die Anzahl der Wörter.
Ergebnisse
Das Korpus bestand zur Hälfte (50,1%) aus Zeitungsartikeln, die im Feuilleton erschienen sind. Die zweitgrößte Artikelgruppe gehörte zur Rubrik Regionales (17,3%), während weitere 12,4% sich auf verschiedene Ressorts verteilten wie Politik, Wirtschaft, Internationales oder Sport. Bei den verbleibenden Artikeln handelte es sich um Interviews (19,5%), die unabhängig von ihren Platzierungen in den Zeitungen separat gezählt wurden. Im Folgenden werden zuerst die Ergebnisse der Inhalts- und Assoziationsanalysen dargestellt, bevor die Sentimentergebnisse im Zusammenhang mit Zeitverlauf und inhaltlicher Relevanz präsentiert werden.
Inhaltsanalyse
Die inhaltlichen Schwerpunkte der Zeitungsartikel, die sich entsprechend der Einschlusskriterien alle auf die Covid19- bzw. Pandemiesituation bezogen, werden differenziert in einem System aus 21 Kategorien abgebildet, die sich wiederum in sieben Oberkategorien gliedern (Tab. 1). Als Oberkategorien wurden die Themen „Gesellschaft“, „Gesundheit“, „Kunst und Kultur“, „Musik“, „Reflexion“, „Wirtschaft und Politik“ und „Digitalisierung“ identifiziert. Die Unterkategorien wurden anhand inhaltlicher Nähe, beobachteter Häufigkeiten und im Hinblick auf die Fragestellungen gebildet (s. Tab. 4 im Anhang). Insgesamt wurden für die 185 Zeitungsartikel 925 kategoriale Zuweisungen vorgenommen. Ein einzelner Artikel wurde mindestens drei und maximal zehn Kategorien zugeordnet (Median = 5 Zuweisungen). Die Kategorie „Digitalisierung“ trat im Zusammenhang mit fast allen anderen inhaltlichen Schwerpunkten auf. Die meisten der kategorialen Zuweisungen behandelten gesellschaftliche Themen (25,9%), gefolgt von 20,1% zu „Wirtschaft und Politik“. Musikkulturbezogene Themen behandelten 12,0% der Artikel (n = 111), und eine ähnliche Anzahl widmete sich den Auswirkungen auf Kunst und Kultur. Insgesamt waren die Oberkategorien nicht gleichverteilt in der Stichprobe repräsentiert (χ2 = 39,98; p < ,001).
Tabelle 1
Das Kategoriensystem zur Erfassung inhaltlicher Schwerpunkte der Artikel
Oberkategorie | Unterkategorie | Zuweisungen
|
|
---|---|---|---|
n | Anteil | ||
Gesellschaft | (gesamt) | 240 | 25,9% |
Öffentliches Leben | 76 | 8,2% | |
Alltag und Freizeit | 40 | 4,3% | |
Kontaktbeschränkung | 40 | 4,3% | |
Solidarität | 34 | 3,7% | |
Familie und Partnerschaft | 31 | 3,4% | |
Bildung und Forschung | 19 | 2,1% | |
Wirtschaft und Politik | (gesamt) | 186 | 20,1% |
Wirtschaft und Finanzen | 59 | 6,4% | |
Beruf und Arbeitsalltag | 47 | 5,1% | |
Recht und Politik | 46 | 5,0% | |
Globalisierung und Internationales | 34 | 3,7% | |
Musik | (gesamt) | 111 | 12,0% |
Aktives Musizieren | 39 | 4,2% | |
Musikrezeption | 39 | 4,2% | |
Musikbusiness | 33 | 3,6% | |
Kunst und Kultur | (gesamt) | 109 | 11,8% |
Kunst und Kultur | 59 | 6,4% | |
Live-Veranstaltungen | 50 | 5,4% | |
Gesundheit | (gesamt) | 106 | 11,5% |
Psychische Gesundheit / Spiritualität | 45 | 4,9% | |
Physische Gesundheit / Sport | 36 | 3,9% | |
Gesundheitswesen | 25 | 2,7% | |
Reflexion | (gesamt) | 103 | 11,1% |
Stille und Reflexion | 62 | 6,7% | |
Zeitempfinden | 41 | 4,4% | |
Digitalisierung | 70 | 7,6% |
Anmerkung. Für die Ober- und Unterkategorien sind die Anzahl der Fälle und der prozentuale Anteil an der Gesamtanzahl (N = 925) angegeben.
Assoziationsanalyse
Für die Assoziationsanalyse wurde ein Support von 0,1 (d.h. Kategorie X und Y treten in mindestens 10% der Zeitungsartikel gemeinsam auf) sowie eine Confidence von 0,5 (Kategorie X und Y treten in mindestens 50% der Zeitungsartikel auf, in denen X vorhanden ist) als Grenzwerte bestimmt. Die Ergebnisse der Assoziationsanalyse offenbarten zehn Regeln, die diese Voraussetzungen erfüllten und positive thematische Zusammenhänge (Lift > 1) zwischen den kategorialen Zuweisungen der Zeitungsartikel aufwiesen (Tab. 2). Die Regeln sind nicht als kausale Wenn-Dann-Beziehungen zwischen den antecedent- und consequent-Items zu verstehen, sondern als korrelative Zusammenhänge zu interpretieren.
Tabelle 2
Die zehn wichtigsten Regeln der Assoziationsanalyse
# | Antecedent | Consequent | Support | Confidence | Lift | n |
---|---|---|---|---|---|---|
1 | Musikbusiness → | Live-Veranstaltungen | 0,12 | 0,67 | 2,45 | 22 |
2 | Musikbusiness → | Wirtschaft und Finanzen | 0,10 | 0,58 | 1,80 | 19 |
3 | Recht und Politik → | Wirtschaft und Finanzen | 0,13 | 0,50 | 1,56 | 23 |
4 | Zeitempfinden → | Stille und Reflexion | 0,11 | 0,51 | 1,55 | 21 |
5 | Alltag und Freizeit → | Stille und Reflexion | 0,11 | 0,50 | 1,51 | 20 |
6 | Musikrezeption → | Digitalisierung | 0,11 | 0,57 | 1,49 | 21 |
7 | Alltag und Freizeit → | Öffentliches Leben | 0,13 | 0,58 | 1,39 | 23 |
8 | Zeitempfinden → | Öffentliches Leben | 0,13 | 0,56 | 1,36 | 23 |
9 | Stille und Reflexion → | Öffentliches Leben | 0,18 | 0,54 | 1,31 | 33 |
10 | Psychische Gesundheit → | Öffentliches Leben | 0,13 | 0,51 | 1,24 | 23 |
Anmerkung. Angegeben sind die Bezeichnungen der assoziierten Kategorien, Support, Confidence und Lift der Regeln, sowie die Anzahl der Fälle in der Stichprobe (Lift in absteigender Reihenfolge).
Die identifizierten Regeln betrafen insgesamt 11 der 21 Unterkategorien. Die Unterkategorien zu Musik und Zeitempfinden sind in fünf der zehn Regeln vertreten. Demnach traten in 12,0% der Zeitungsartikel (Support; n = 22) sowohl die Kategorie „Musikbusiness“ als auch die Kategorie „Live-Veranstaltungen“ auf, wobei 66,7% der Zeitungsartikel (Confidence), die sich thematisch mit Musikbusiness auseinandersetzen, inhaltlich auch auf Live-Veranstaltungen eingehen. Der Lift von 2,45 deutet klar auf eine positive Assoziation hin. Weitere musik- und zeitbezogene Assoziationen bestehen zwischen den Kategorien „Musikbusiness“ und „Wirtschaft und Finanzen“ (Lift = 1,80), „Musikrezeption“ und „Digitalisierung“ (Lift = 1,49), „Zeitempfinden“ und „Stille und Reflexion“ (Lift = 1,55) sowie „Öffentliches Leben“ (Lift = 1,31). Ein Zusammenhang zwischen den zeit- und musikbezogenen Kategorien konnte über die Assoziationsanalyse nicht festgestellt werden. Abbildung 1 visualisiert die Ergebnisse der Assoziationsanalyse.
Abbildung 1
Darstellung der zehn wichtigsten Regeln der Assoziationsanalyse
Anmerkung. Die Pfeile der nummerierten „Regeln“ (s. Tab. 1) führen von den antecedent- zu den consequent-Kategorien.
Sentimentanalyse
Die Sentimentanalyse errechnete für jeden Artikel einen absoluten Wert der lexikalischen emotionalen Färbung, der sich aus der Summe der Einzelwerte der sentimenttragenden Begriffe ergab. Die absoluten Werte lagen zwischen -25,97 (negative emotionale Färbung) und 16,28 (positive Färbung). Aufgrund der unterschiedlichen Länge der untersuchten Zeitungsartikel wurde die Variable normalisiert, indem die Artikel jeweils durch die Anzahl der Wörter geteilt und der besseren Lesbarkeit wegen mit dem Faktor 1.000 multipliziert wurden. Über die gesamte Stichprobe hinweg lag der Mittelwert der normalisierten Sentimentwerte erwartungsgemäß annähernd bei 0 (M = 0,05; SD = 3,74; Max. = 8,58; Min. = -15,48).
Zwischen Artikeln mit verschiedenen thematischen Bezügen zeigten sich Unterschiede hinsichtlich der ermittelten Sentimentwerte. Zur Berechnung wurden für jede der 21 Kategorien die Sentimentwerte der zugehörigen Zeitungsartikel in Einstichproben-t-Tests mit dem Testwert „0“ (neutrale emotionale Färbung) verglichen. Das Signifikanzniveau wurde nach Bonferroni korrigiert (pbonf < ,002). Artikel, die der Kategorie „Aktives Musizieren“ zugeordnet waren, wiesen einen signifikant positiveren Sentimentwert auf (t[38] = 3,90; M = 1,98; p < ,001), wohingegen Artikel der Kategorie „Recht und Politik“ durchschnittlich mehr negativ konnotierte Begriffe verwendeten (t[45] = -3,49; M = -2,00; p = ,001; Tab. 3).
Tabelle 3
Mittlere Sentimentwerte aller Unterkategorien für die Zeitungsartikel
Eher positive emotionale Färbung | Sent.-Wert | Eher neutrale oder negative emotionale Färbung | Sent.-Wert |
---|---|---|---|
Aktives Musizieren | 1,98* | Gesundheitswesen | 0,00 |
Bildung und Forschung | 1,73 | Stille und Reflexion | -0,03 |
Musikrezeption | 1,08 | Kontaktbeschränkung | -0,34 |
Zeitempfinden | 0,97 | Wirtschaft und Finanzen | -0,43 |
Liveveranstaltungen | 0,89 | Öffentliches Leben | -0,47 |
Digitalisierung | 0,76 | Psych. Gesundheit / Spiritualität | -1,27 |
Musikbusiness | 0,56 | Internationales | -1,32 |
Beruf und Arbeitsalltag | 0,53 | Physische Gesundheit / Sport | -1,45 |
Alltag und Freizeit | 0,34 | Recht und Politik | -2,00* |
Kunst und Kultur | 0,22 | ||
Solidarität | 0,18 | ||
Familie und Partnerschaft | 0,18 |
*Ergebnisse der Einstichproben-t-Tests gegen 0, pbonf < ,002.
Eine ANOVA zeigte keine signifikanten Unterschiede im Sentimentwert von Zeitungsartikeln verschiedener Ressorts (p = ,397). Die Sentimentwerte hängen jedoch mit den vergebenen Relevanzwerten der Zeitungsartikel zusammen, die zuvor von zwei der Autoren für die drei Schwerpunkte der Studie („Corona“, „Musik“, „Zeit“) auf einer fünf-stufigen Skala ermittelt wurden (Relevanz „Corona-Pandemie“: M = 4,57; SD = 0,93; Relevanz „Musik“: M = 2,43; SD = 1,39; Relevanz „Zeit“: M = 1,67; SD = 1,02). Dabei zeigte sich eine signifikant negative Rangkorrelation zwischen den Sentimentwerten der Texte und der ermittelten Corona-Relevanz (rs = -,18; p = ,016) und eine signifikant positive Rangkorrelation mit der Musik-Relevanz der Artikel (rs = ,26; p < ,001); die Relevanz zu zeitbezogenen Themen korrelierte nicht signifikant mit dem Sentimentwert (rs = ,07; p = ,330). Mit steigendem Bezug zur Corona-Pandemie wird die emotionale Färbung der Artikel also eher negativ, und mit zunehmend musikalischem Bezug lassen sich mehr positive Begriffe in Artikeln finden.
Eine Varianzanalyse der Sentimentwerte zeigte einen signifikanten Haupteffekt für den Faktor „Zeitraum“ (Perioden P1–P6; F[5, 179] = 2,65; p = ,025; η2 = 0,07). Eine Post-hoc-Analyse führte zu dem Ergebnis, dass die emotionale Färbung der Berichterstattung in der ersten Periode (M = -1,21; SD = 3,30) signifikant negativer ausfiel als in der zweiten Periode (M = 1,95; SD = 3,38), weitere Perioden unterschieden sich nicht signifikant in den Sentimentwerten (Abb. 2).
Abbildung 2
Normalisierte Sentimentwerte der Perioden P1–P6
*p < ,05.
Diskussion
Die Ziele der Studie bestanden in der Erhebung von Themen in überregionalen Zeitungsartikeln, die sich mit Musik und einer veränderten Zeitwahrnehmung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang wurden außerdem die assoziativen Verbindungen der inhaltlichen Schwerpunkte analysiert, wobei insbesondere die Beziehung musikalischer Aktivitäten und Zeitwahrnehmung von Interesse war, sowie die emotionale Färbung der ausgewählten Zeitungsartikel. Die Inhaltsanalyse verdeutlichte, dass die Oberkategorien „Gesellschaft“, „Wirtschaft und Politik“ am prominentesten in der Stichprobe vertreten waren. Die Ergebnisse der Assoziationsanalyse zeigten entsprechende Zusammenhänge im Zuge der Corona-Pandemie auf, etwa die häufig auftretende Verbindung der Themen Musikrezeption und Digitalisierung. Die Sentimentanalyse offenbarte Unterschiede in der emotionalen Färbung zwischen den Artikeln, wobei emotional positiv gefärbte Sprache insbesondere in Artikeln verwendet wurde, die unter anderem Themenbezüge zum aktiven Musizieren aufwiesen.
In bisheriger Forschung zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie gaben viele Befragte an, während des Lockdowns eine veränderte Zeitwahrnehmung zu empfinden (Droit-Volet et al., 2020; Ogden, 2020), die auch durch veränderte Tagesabläufe und Freizeitaktivitäten begründet werden kann. Es wurde vermutet, dass die journalistische Berichterstattung gemäß ihrer Funktion ein solches Phänomen einfangen müsste. Tatsächlich griffen nicht wenige Zeitungsartikel dieses Thema auf. In 37 Fällen (20% der Stichprobe) behandelten Artikel in bedeutender Weise (d.h. mit einem zeitbezogenen Relevanzwert von mindestens 3) die gefühlte oder tatsächliche Geschwindigkeit von Vorgängen oder das Verstreichen der Zeit. In der Mehrheit dieser Artikel wurde der vermeintlich entschleunigende Effekt der Pandemie bzw. des Lockdowns behandelt, wie z. B.: „Dies sei aber auch eine Chance innezuhalten und nachzudenken, ob ein ständiges Wachstum, ein immer Weiter, Besser und Schneller zu Lasten der Nachkommen ungebremst weitergehen müsse“ (Engel, 2020, S. R6). Im Korpus befanden sich demgegenüber auch Artikel, in denen stattdessen von beschleunigenden Effekten die Rede war, die sich vor allem auf die Kulturbranche bezogen: „Wie in vielen anderen Bereichen wirkt die Pandemie auf dem Kunstmarkt wie ein Beschleunigungsmotor für Veränderungen, die sich in der Vergangenheit vorsichtig andeuteten, aber noch weit in der Zukunft lagen“ (Trommer, 2020, S. 35).
Das Thema der veränderten subjektiven Zeitwahrnehmung oder allgemein des Zeitempfindens wurde jedoch nur in Einzelfällen in Artikeln behandelt, die ebenfalls einen starken musikalischen Bezug zeigten. Auch die Assoziationsanalyse lieferte keine starken inhaltlichen Verbindungen zwischen den Themen Musik und Zeitempfinden, trotz der beschriebenen Berührungspunkte von Zeitwahrnehmung und Musik als temporaler Kunstform (Droit-Volet et al., 2010; Wang & Wöllner, 2020). Die Assoziationsanalyse konnte andererseits zeigen, dass Artikel, die das Thema „Zeitempfinden“ aufgriffen, häufig generell den gesellschaftlichen Wandel mit allen Auswirkungen auf das Alltagsleben ebenso wie die Möglichkeit der Reflexion behandeln. Dies zeigte sich etwa in der FAZ, die suggestiv fragt „Wer braucht denn jetzt die Künste?“, um anschließend zu resümieren: „Wenn in einer derartigen Krise eine Chance liegt, dann die, dass man endlich sieht, was fehlt, wenn in einer Stadt keine Kunst mehr zu erleben ist“ (Maak & Seidel, 2020, S. 33). Die Süddeutsche Zeitung schreibt ähnlich: „Alle [Musizierenden eines Festivals] erzählen ein bisschen was über die Musik, fast alle betonen, dass das Publikum fehlt. Und wiederum fast alle sehen im verordneten Ruhezustand auch die Chance zur Besinnung“ (Tholl, 2020, S. R14).
Die bestehende Literatur zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Lockdowns für Kulturschaffende betont die fehlenden (Live-) Auftrittsmöglichkeiten und damit verbunden die ausbleibenden Einnahmen (Spiro et al., 2021). Diese Problematik wird auch in den Zeitungsartikeln der Stichprobe deutlich: Die Assoziationsanalyse ergab, dass von allen paarweisen Verbindungen die Kategorien „Musikbusiness“ und „Live-Veranstaltungen“, bzw. „Musikbusiness“ und „Wirtschaft und Finanzen“ am häufigsten gemeinsam in Artikeln zu finden waren. Bereits in den Überschriften zahlreicher Zeitungsartikel stellen sich die Herausforderungen für Musikproduzenten, Clubbetreiber und Veranstalter sinnbildlich dar: „Passion und Pleite“ (Stallknecht, 2020, S. 10), „Fiese Störgeräusche der Krise“ (Mauch, 2020, S. 43), „Die Kunst, nicht unterzugehen“ (Friedrich, 2020, S. R8) und nicht zuletzt „Täglich stirbt ein Festival an Corona“ (Brug, 2020, S. 8).
Der Eindruck, dass die Bereitstellung und Rezeption digitaler Musikangebote durch den Wegfall von Live-Auftrittsmöglichkeiten zunahm (Onderdijk et al., 2021), wird durch die häufig gemeinsam zugewiesenen Kategorien „Musikrezeption“ und „Digitalisierung“ unterstützt. Die Zeit berichtete etwa über die Aktion „#musikerfuerdeutschland“ und bemerkte zu den bis zu 170.000 Zuschauern des Live-Streams von Igor Levit: „[D]er Hunger nach einer Musik, die weiterspielt, im Hier und Jetzt, scheint groß zu sein.“ (Stock et al., 2020, S. 51).
Eine tendenziell negative emotionale Färbung der Zeitungsartikel konnte vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie zu Beginn des Lockdowns erwartet werden. Wie eine Varianzanalyse zwischen den Perioden zeigte, war die emotionale Färbung der Zeitungsartikel in P1 (16.–31.03.2020) signifikant negativer als in P2 (1.–15.04.2020), während hinsichtlich P3 – P6 hingegen keine signifikanten Unterschiede in der emotionalen Färbung festgestellt wurden. Die Berichterstattung der Stichprobe setzt mit den ersten in Kraft tretenden Einschränkungen zur Verhinderung der Verbreitung des Covid-19-Virus ein. Die Zeitungsartikel in diesen ersten zwei Wochen waren geprägt von den initialen Reaktionen auf den Lockdown und der damit verbundenen Unsicherheit in der Bevölkerung. Außerdem verwendeten Artikel mit höherem Bezug zur Pandemie und ihren Auswirkungen häufiger negativ konnotierte Begriffe, wozu nicht zuletzt das Wort „Krise“ selbst zählt. Für die gesamte Stichprobe hingegen galt, dass der Mittelwert des Sentimentwerts annähernd bei 0 lag. Dies suggeriert ein ausgeglichenes Korpus bezüglich der Verwendung sentimenttragender Begriffe.
Für Artikel mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten zeigten sich hingegen auch signifikante Abweichungen des Sentimentwerts. Die positive emotionale Färbung von Artikeln, in denen es um aktives Musizieren ging, suggeriert einen positiven Effekt in der Beschäftigung. Dazu passt, dass sich in der Pandemie mehr mit Musik beschäftigt wurde, unter anderem als Mittel gegen Einsamkeit und Stress (Cabedo-Mas et al., 2021; Fink et al., 2021; Vidas et al., 2021). Die Kategorie „Musikrezeption“ zeigt ebenfalls eine klare Tendenz zu positiven Sentimentwerten. Möglicherweise wurden digitale Ersatzangebote, die in den ersten Wochen bereits entwickelt wurden, offen angenommen. Artikel der Kategorie „Musikbusiness“ sind tendenziell positiv gefärbt, obwohl sie vielfach die großen finanziellen Probleme der Branche thematisierten. Der Verlust von Auftrittsmöglichkeiten und die erschwerte und bisweilen unmöglich gewordene Teilhabe am kulturellen Leben, speziell für ältere Generationen, sollte ihre Spuren auch in den Sentimentqualitäten der verwendeten Sprache hinterlassen haben. Tatsächlich zeigte sich jedoch besagtes Ergebnis, dass musikbezogene—und tendenziell allgemein kulturbezogene—Artikel durchschnittlich mehr positive Begriffe verwendeten. Dieses Ergebnis lässt sich nicht allein durch das verwendete Lexikon (Remus et al., 2010) erklären, da die dort hinterlegten Begriffe keine Häufung von positiven Sentimentwerten für kultur- oder musikbezogene Wörter zeigen. Auch für das Feuilleton-Ressort als Ganzes lässt sich kein Effekt hinsichtlich der Sentimentwerte beobachten. Es scheint vielmehr, als ob das Schreiben über Musik- und Kulturthemen zur Verwendung positiv besetzter Begriffe ermuntere. Möglicherweise kommt dies durch eine Rückbesinnung auf die positive Wirkung von Musik und Kultur im Allgemeinen zustande, auch wenn negative Folgen thematisiert wurden. Dies könnte in weiteren Untersuchungen zu den Sentimentqualitäten in anderen, möglicherweise heterogeneren Stichproben weiter erforscht werden. Die statistisch signifikant häufigere Verwendung negativ konnotierter Begriffe in Artikeln der Kategorie „Recht und Politik“ lässt sich womöglich durch die in den Zeitungsartikeln kontrovers diskutierten Entscheidungen der Politik erklären, die insbesondere zu Beginn der Pandemie die Gesellschaft und Wirtschaft vor bislang kaum bekannte Herausforderungen stellte.
Einschränkungen der Studie
Die Ergebnisse beziehen sich auf ein Korpus nach vordefinierten Kriterien ausgewählter Printmedien, das nicht repräsentativ für die gesamte Berichterstattung im Erhebungszeitraum ist. Die Zeitungsartikel wurden durch den Suchterm in zwei Onlineportalen erfasst und durch eine weitergehende Bestimmung der Relevanz zu den Kernthemen „Corona“, „Zeit“ und „Musik“ eingegrenzt. Die Aussagekraft der Assoziationsanalyse ist dabei abhängig von der Stabilität der zu vergleichenden Merkmale, in diesem Fall der verschiedenen Kategorien des entwickelten Kategoriensystems. Bei der Zuordnung des Inhalts von teils ganzseitigen Zeitungsartikeln auf einzelne Kategorien findet unweigerlich ein Informationsverlust statt. Entsprechend können Zeitungsartikel derselben Kategorie auch weitestgehend unterschiedliche Sachverhalte behandeln. Bei einer neuen Analyse des Korpus könnte sich die Bildung des Kategoriensystems auch an Kategorien der inzwischen veröffentlichten Studien zur Covid-19-Pandemie orientieren, wobei die gebildeten Kategorien weiterhin auf Vollständigkeit und Trennschärfe hätten überprüft werden können. Aufgrund der Fragestellung und des Analysezeitpunkts der vorliegenden Untersuchung wurde ein induktives Vorgehen als zielführend angesehen. Die Beurteilerübereinstimmung legt ein hinreichend stabiles Kategoriensystem nahe.
Mittels Sentimentanalyse wurde die emotionale Färbung von Texten quantitativ vergleichbar dargestellt. Sentimentwerte sind jedoch nur eingeschränkt in der Lage, sämtliche emotionale Qualitäten von komplexen Texten adäquat zu bestimmen. Die Syntax der verwendeten Sprache wird beispielsweise nicht oder nur unzureichend beachtet, wobei bestehende Algorithmen indes stetig weiterentwickelt werden, etwa hinsichtlich der korrekten Interpretation von Negationen. Die Sentimentanalyse ist vor allem für große Textkorpora geeignet, um einen generellen Überblick hinsichtlich der emotionalen Färbung zu erhalten. Eine Diskussion über die Aussagekraft von Sentimentanalysen findet sich u. a. bei Flüh (2019).
Schlussfolgerungen
Die vorliegende Studie konnte anhand eines Korpus von 185 Zeitungsartikeln während des ersten Covid-19-Lockdowns im Frühjahr 2020 zeigen, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie und Themen wie Musik und Zeit durch bestimmte Schwerpunkte wie Digitalisierung oder wirtschaftliche Aspekte besonders stark geprägt wurde. Während Kategorien wie „Aktives Musizieren“ in der Sentimentanalyse positiv konnotiert waren, zeigten sich negative Zusammenhänge mit „Recht und Politik“. Außerdem wurde die emotionale Färbung nach einem ersten „Einbruch“ zu Beginn des Untersuchungszeitraums nach zwei Wochen signifikant positiver. Entgegen den Erwartungen konnten jedoch über eine Assoziationsanalyse keine Zusammenhänge zwischen Musik und Zeiterleben festgestellt werden. Dadurch zeigt sich, dass der öffentliche Diskurs zur Musik während der Pandemie zwar von vielfältigen relevanten Themen geprägt ist, nicht zwangsläufig aber die Erkenntnisse aus später veröffentlichten wissenschaftlichen Forschungen zum Zeiterleben während des Lockdowns (Chaumon et al., 2022; Droit-Volet et al., 2020) widerspiegelt. Dennoch vermögen sorgfältig ausgewählte und kategorisierte Artikel überregionaler Zeitungen als Seismograf des Zeitgeists gelten, die den gesellschaftlichen Umgang mit dem Lockdown dokumentieren. Die qualitativ-quantitative Analyse der Zeitungsartikel verdeutlicht den Wert kultureller Angebote und Teilhabe, auch und besonders in gesellschaftlichen Extremsituationen.