In einer Gegend, in der alles auf -ingen endet, liegt das Singen buchstäblich in den Genen. Hier kommt jeder Mensch mit Anstand zur Probe und gern auch wieder. Hier muss kein Chorleiter seine SängerInnen einzeln verhaften, er hat fleißig zu tun. Kein Wunder, dass in solchem Milieu einer wie Gotthilf Fischer berühmt wurde: der Menschenfänger aus Plochingen, der es – auch wenn das ein ganz anderes Fach war – selten unter der Chorstärke von Gustav Mahlers 8. Sinfonie tat, der legendären „Sinfonie der Tausend“.
Sein eigenes Fach, das war der volkstümliche, ein- oder mehrstimmige Chorgesang, der in ihm den Maestro der Massen fand. Für ihn gab es keine bessere Ausbildung als das schlichte Tun und Machen, wie er es in der Familie erlebt hatte. Bei den Fischers machte man Musik, sang man und benötigte dazu kein Konzertexamen. Dieser urwüchsige Zugang machte dem kleinen Gotthilf (Jahrgang 1928) alles leicht, und da er ein kommunikatives Talent besaß, übernahm er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Concordia-Gesangsverein in Deizisau, 1949 gewann der Chor beim Schwäbischen Sängerfest zwei Preise, und von da an war Fischer eine Marke.
Und bald kamen dann sozusagen die Grundrechenarten bei seiner Art des Musizierens hinzu, vor allem die Addition und die Multiplikation. Es fanden sich immer mehr SängerInnen ein, und da er auch die Zahl der Chöre unter seiner Ägide vermehrte, entstanden irgendwann die Fischer-Chöre. Diese von manchen belächelten, von vielen bewunderten Einsatzhundertschaften des Volksgesangs brachten bald auch Fernsehregisseure an den Rand des Wahnsinns: Wie sollte man so viele Menschen ins Bild bekommen? Masse statt Qualität – das war bei Fischer indes nie die Frage. Er zeigte, dass ein kleines Lied ganz große Wirkung entfalten kann, wenn es nur mit Seele gesungen wird.
Immer sah man ihn lachen, scherzen und werben, er war gewiss ein Überredungskünstler, wie es nur wenige im Bereich der sogenannten U-Musik gab, doch betrieb er sein Gewerbe nicht unseriös. Von Stimmen verstand er nämlich etwas. Natürlich, Bachs h-Moll-Messe wäre nie sein Ding gewesen, vokalen Hochleistungssport überließ er anderen. Er hingegen zeigte, dass auch in „Wenn alle Brünnlein fließen“ viel Kunst und Sinn stecken, wenn man es mit Melancholie und Schmelz vorträgt.
Manchmal verschliffen sich die Ergebnisse der Probenarbeit allerdings, wenn er mit zwei Jumbo-Jets unterwegs war, etwa zum Papst nach Rom, der die Fischer-Chöre zu hören wünschte, zum US-Präsidenten Jimmy Carter – oder zum Finale der Fußball-WM 1974 in München. Manchmal, nun ja, war es einfach nur laut. Egal. Dass er, der Schwabe, dabei nicht ehrenamtlich unterwegs war, versteht sich von selbst.
Im Jahr 2002 verblüffte Fischer das musikalische Europa mit der Ankündigung, er wolle beim Schlager-Grand-Prix 2003 mit einer eigenen Band antreten. Das las sich frivol, doch mancher fand die Idee witzig. Wer wollte nicht dabei sein, wenn einer wie Fischer einem ganzen Kontinent ein lustiges Schippchen Musik in den Vorgarten schüttet? Aus dem Unternehmen wurde dann aber nichts, irgendwie schade.
Jetzt ist dieser feine Musiker und fidele Mensch im Alter von 92 Jahren gestorben – ausgerechnet zu einer Zeit, in der das öffentliche Singen beinahe unter Strafe steht. Wahrscheinlich hat sich Fischer gedacht, jetzt werde er hier unten sowieso nicht mehr gebraucht. Nun dirigiert er halt da oben. Gott hilft ihm dabei, wie immer schon.